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Die Gemeinschaft ist wichtiger als der Einzelne: Deliberation, praktische Rationalität und Moralpsychologie in Ciceros De officiis
Antragsteller
Professor Dr. Philipp Brüllmann
Fachliche Zuordnung
Geschichte der Philosophie
Förderung
Förderung seit 2021
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 457116490
Ciceros Perspektive auf Fragen der Ethik ist von einem starken Interesse am Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft geprägt. Es gehört zu den wesentlichen Anliegen, nicht nur seiner politischen Schriften, herauszustellen, dass die Gemeinschaft – v.a. die der res publica – im Zweifelsfall wichtiger ist als der Einzelne. Diese These vom Vorrang der Gemeinschaft (T) ist zwar ein zentraler Bestandteil unseres Bildes von Ciceros Grundhaltung; erstaunlicherweise ist bisher aber nie untersucht worden, was sie für seine ethische Theorie genau bedeutet. Hier setzt mein Projekt an. Mein Ziel ist, systematisch zu untersuchen, welche Rolle der Vorrang der Gemeinschaft in De officiis, Ciceros einflussreichster Schrift zur Ethik, spielt. Dabei werde ich nicht nur analysieren, welche Funktion T beim ‚Berechnen der Pflicht‘, d.h. der Bestimmung angemessenen Verhaltens in konkreten Situationen, zukommt. Ich werde auch erörtern, mit welcher Konzeption von praktischer Rationalität und Moralpsychologie T in De officiis einhergeht. Dadurch wird unserem Bild dieser Schrift, die für die Geschichte der Ethik von großer Bedeutung gewesen ist, heute aber v.a. als Quelle für die Philosophie der Stoa gelesen wird, ein entscheidender Aspekt hinzugefügt.Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist eine Beobachtung, die bislang zu wenig Beachtung gefunden hat: T passt nicht ohne Weiteres in den eudaimonistischen Rahmen, auf den Cicero sich in seiner Ethik bezieht. Für den Eudaimonismus steht die Frage im Mittelpunkt, was am meisten zu unserem Glück beiträgt, d.h. was in unserem eigenen Interesse liegt. T dagegen scheint uns aufzufordern, von genau dieser Frage abzusehen und die Interessen der Gemeinschaft als vorrangig zu betrachten. Dieses Problem ist eigentlich nicht neu. Es spielt schon bei Aristoteles eine Rolle, zu dessen zweifellos eudaimonistischer Ethik der Gedanke gehört, dass es richtig sein kann, sein Leben für andere zu opfern, so etwa in Ausübung der Tapferkeit. Während Aristoteles aber versucht, den Fall des Selbstopfers mit seinem Eudaimonismus zu verknüpfen, ist das in De officiis weniger klar. Vielmehr finden wir hier, wie ich zeigen werde, Grundlinien einer alternativen, nicht-eudaimonistischen Begründung von T, die u.a. durch eine Psychologie von Befehlen und Gehorchen sowie der freiwilligen Selbstbeschränkung gekennzeichnet ist. Indem es diese Grundlinien nachzeichnet und die Spannung zum eudaimonistischen Rahmen herausarbeitet, bietet mein Projekt einen völlig neuen Blick auf De officiis. Wir können dadurch nicht nur besser verstehen, was De officiis zu Ciceros eigenen Anliegen beiträgt, wie er sie z.B. in den politischen Schriften verfolgt. Wir verfügen auch über eine Grundlage für Reflexionen über das Verhältnis zwischen De officiis und der eudaimonistischen Tradition auf der einen Seite sowie modernen deontologischen Konzeptionen auf der anderen. Solche Reflexionen sind ebenfalls Teil meines Projekts.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen