Akteure und ihre Lebenswelten: Die Transformation der Stadt Tripoli (Libanon) während des "langen" 19. Jahrhunderts.
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Konzept der „Lebenswelten" bietet die methodische Basis für die systematische Verzahnung bauforscherischer Analyse und Text-basierter historischer Forschung, die dank einer sehr guten Quellenbasis ein breites Akteursspektrum in die Untersuchung einbeziehen konnte. Die Ergebnisse wurden exemplarisch anhand dreier Fallbeispiele (Lebenswelten der Mittel- und Unterschicht, alter Eliten sowie sozialer Aufsteiger) dargestellt. Tripolis Bevölkerung versechsfachte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts primär durch Migration, wobei die Altstadtfläche annähernd gleich blieb. Die einzelnen Viertel wiesen eine religiöse, soziale und professionelle Heterogenität verbunden mit einer funktionalen Mischnutzung (Arbeiten und Wohnen) auf. Die steigende Nachfrage nach Wohnraum führte zu einer baulichen Verdichtung der Altstadt, ausgedrückt in Aufstockungen bereits bestehender Baustrukturen und der Fragmentierung von Wohnhäusern, die fortan gemeinschaftlich genutzt wurden (Bsp. Wohnhöfe). Die bauliche Verdichtung zwang die Bewohner zu besonderen Praktiken, um auch unter extrem beengten Verhältnissen ihre persönliche Integrität zu wahren. Mit Blick auf die Organisation und Regulierung des Zusammenlebens in Gemeinschaftsunterkünften konnten enge Bindungen zu den führenden Persönlichkeiten des jeweiligen Viertels festgestellt werden, die als Schlichter alltäglicher Konflikte auftraten. Nachlassakten ärmerer Handwerker, die in derartigen Gemeinschaftsunterkünften wohnten, legen nahe, dass sie einen großen Teil ihrer (beschränkten) Mittel für Dinge aufwendeten, die der Repräsentation eines gewissen Maßes an Wohlstand und Modernität nach außen dienten. Die Lebenswelten sowohl der angestammten Eliten, aghawāt und 'ulamā', als auch der sozialen Aufsteiger verweisen auf die enge Verbindung von physischem Raum, sozialer Praxis und gesellschaftlichem Status. In ihren Wohnvierteln waren die alten Eliten mittels sozialer Praktiken wie der Mittlertätigkeit in ihren Empfangshallen verankert. Die sozialen Praktiken, aus denen sich ihr Status und ihre gesellschaftliche Anerkennung speisten, blieben weitgehend an diese Orte gebunden - auch als sie im Lauf des osmanischen Reformprozesses ihre angestammte informelle Machtposition durch die förmliche Mitgliedschaft im neu geschaffenen Stadtrat ergänzten. Dies erklärt, warum diese Elitengruppen ihre Stellung nicht durch Errichtung neuer Bauten in sozial homogenen Neubauvierteln sichtbar machten, sondern durch Umbauten im Bestand. Zur gleichen Zeit erhielten sie Konkurrenz von sozialen Aufsteigern - wohlhabende Händler, Unternehmer sowie nichtmuslimische Eliten -, die aus der Mitgliedschaft im Stadtrat Einfluss und Status ableiteten. Die Aufsteiger verließen ihre angestammten Wohnviertel und wählten neue Wohnorte am Stadteingang, der ihren freistehenden, luxuriös gestalteten, modernen Zentralhallenhäusern eine besondere Sichtbarkeit und Repräsentativitat verlieh. Das sich formierende Cluster sozialer Aufsteiger befand sich in räumlicher Nähe zum Gebäude der Stadtverwaltung und bildete einen Gegenraum zu den Wohnstandorten der angestammten Eliten. Mit Blick auf ihre sozialen Praktiken passten sie sich weitgehend den alten Eliten an (Bsp. Strategien zum Schutz weiblicher Integrität und Würde). Hinsichtlich der Nutzung der modernen Wohnhäuser verweist ein differenziertes Raumprogramm auf veränderte Geschlechterrollen gerade in Bezug auf Öffentlichkeit.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- The Rescue Excavations in Suq Harāj in 2005. Findings and Interpretation, in: BAAL 10 (2006), S. 315-327
Meister, Juren / Karam, Samar
- The Restoration Project of Suq Harāj in Tripoli, History, Archaeology and Rehabilitation, in: BAAL 10 (2006), S. 267-295
Weber, Stefan
- Multicultural Urban Fabric and Types in the South and Eastern Mediterranean. Beiruter Texte und Studien 102, Beirut 2007
Cerasi, Maurice / Petruccioli, Attilio / Sarro, Adriana / Weber, Stefan (Hrsg.)
- Tripoli (Libanon), Handelsgroßbauten im Bazar der Altstadt (Jahresbericht 2007 des Deutschen Archäologischen Instituts), in: Archäologischer Anzeiger 2008/1 Beih., S. 35-37
Meister, Juren
- Entangled Modernities -Multiple Architectural Expressions of Global Phenomena: The Late Ottoman Example, in: Modjtaba, Sadria (Hrsg.): Multiple Modernities in Muslim Societies, Aga Khan Award for Architecture Seminar (2009), S. 143-154
Weber, Stefan
- Tripoli (Libanon), Handelsgroßbauten im Bazar der Altstadt (Jahresbericht 2008 des Deutschen Archäologischen Instituts), in: Archäologischer Anzeiger 2009/1 Beih., S. 34-36
Meister, Juren
- Der Handels-, Gewerbe- und Wohnkomplex Suq al-Harāg in Tripoli/Libanon. Überlegungen zu seiner Gewölbekonzeption, in: Bericht über die 45. Tagung für Ausgrabungswissenschaft und ßauforschung vom 30. April bis 4. Mai 2008 in Regensburg, Dresden 2010, S. 249-256
Meister, Juren
- Syria and Bilad al-Sham under Ottoman Rule. Essays in Honor of Abdul-Karim Rafeq, Leiden [u.a.]: Brill 2010
Sluglett, Peter / Stefan Weber (Hrsg.)
- Tripoli (Libanon), Handels- und Gewerbegroßbauten im Bazar der Altstadt (Jahresbericht 2009 des Deutschen Archäologischen Instituts), in: Archäologischer Anzeiger 2010/1 Beih., S. 28-30
Meister, Juren
- Tripoli (Libanon), Handels- und Gewerbegroßbauten im Bazar der Altstadt (Jahresbericht 2010 des Deutschen Archäologischen Instituts), in: Archäologischer Anzeiger 2011/1 Beih., S. 22-24
Meister, Juren
- The Stuff of History: Everyday Objects, the Construction of Ambiguous Meanings, and the "Afterlife" of Social Things, in: Junod, Benoit / Georges Khalil / Stefan Weber / Gerhard Wolf (Hrsg.): Islamic Art and the Museum: Approaches to Art and Archaeology of the Muslim World in the Twenty-First Century, London: Saqi, 2012, S. 116-124
Saßmannshausen, Christian