Longitudinale Evaluation der Rehabilitation des Sprachverstehens nach Cochlea-Implantation
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Etwa 14 Millionen Menschen in Deutschland haben behandlungsbedürftige Hörschädigungen. Wenn die Schädigung ein Ausmaß erreicht, in dem klassische Hörhilfen in Form von Hörgeräten die akustischen Signale nicht (mehr) ausreichend verstärken können, um ein gutes Sprachverstehen zu gewährleisten, können zumeist Cochlea-Implantate (CI) Abhilfe schaffen. Mit diesen Geräten wird der Hörnerv elektrisch angeregt. Dadurch werden die defekten Haarzellen in der Cochlea umgangen und ein Hören ist (wieder) in allen sprachrelevanten Frequenzbereichen möglich. Hören allein ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dem Verstehen von Sprache. Aufgrund der veränderten Inputbedingungen muss das Gehirn zunächst Lern- und Adaptationsprozesse durchlaufen. Dieser Verlauf ist jedoch interindividuell sehr variabel und die Prognose zur präoperativen Beratung der Patienten ist mit einigen Unsicherheiten behaftet. In dem geförderten Projekt wurden einerseits die neuroanatomischen Voraussetzungen für die Entwicklung von Sprachverstehen mit CI mittels MRT-basierter probabilistischer Traktographie untersucht. Andererseits wurde der Lernprozess mit dem CI mittels objektiver neurophysiologischer Methoden (EEG/ERP) gemessen. Es zeigte sich, dass Patienten, die seit der Geburt stark schwerhörig waren, und mit Gebärdensprache als Muttersprache aufgewachsen sind, über ein analoges sprachliches Netzwerk im Gehirn verfügen wie normalhörende Probanden. Die sprachrelevanten Faserbündel scheinen vom Hörverlust unbeeinträchtigt zu bleiben, da sie die zugrundeliegende semantisch-syntaktische Struktur jeder Form von Sprache prozessieren, unabhängig davon, ob diese über den auditiv-motorischen (Lautsprache) oder den visuell-motorischen (Gebärde) Weg verarbeitet wird. Große Konnektivitätsunterschiede zeigten sich in Trakten, die zur Artikulation und Dekodierung von gesprochener Sprache wichtig sind. Aufgrund der Hördeprivation und des daraus resultierenden Lautsprachdefizits sind sowohl die für die Artikulation benötigten motorischen Faserbündel als auch die interhemisphärische Verbindung zwischen den auditorischen Kortizes verringert, welche für die eine effektive Integration des Sprachsignals nötig sind. Zudem kann keine audiovisuelle Verarbeitung erfolgen. Unsere Studie unterstreicht die Modalitätsunabhängigkeit des Sprachnetzwerks in Bezug auf semantische und syntaktische Verarbeitung. Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse, dass fehlender auditiver Input im frühen Kindesalter zu einer Schwächung der Konnektivität von Faserbündeln führt, die für Produktion und Dekodierung von Lautsprache sowie für audio-visuelle Sprachverarbeitung zuständig sind. Die EEG-Studien demonstrierten den zeitlichen Verlauf des Wortverstehens mit CI für Patientengruppen mit unterschiedlichen Anamnesebedingungen. Hier zeigte sich, dass CI-Träger, die bereits seit der Geburt stark schwerhörig waren, die oben beschriebenen deprivierten Faserbündel nicht kurzfristig, d.h. innerhalb von 8 Monaten nach CI-Versorgung aktivieren konnten. Es wurde kein objektiver Hinweis auf die Aktivierung bzw. Integration der Wortbedeutung gesprochener Sprache beobachtet. Demgegenüber konnte für spätertaubte Erwachsene bereits einige Tage nach Prozessoraktivierung ein erstes Wortverstehen mit CI nachgewiesen werden, welches sich im weiteren Verlauf stabilisierte und an Amplitude zu- und Latenz abnahm. Das verwendete EEG-Paradigma ist also geeignet, den zeitlichen Verlauf von Lern- und Adaptationsprozessen nach CI-Versorgung objektiv zu dokumentieren und wissenschaftlich detailliert zu untersuchen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2013, September). Diffusionsgewichtete Bildgebung des Sprachnetzwerkes bei hörgeschädigten Patienten. In: M. Gross & R. Schönweiler (Hrsg.). Aktuelle phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2013, Band 21, German Medical Science GMS Publishing House, Düsseldorf, S. 243-245
Finkl, T., Anwander, A., Friederici, A.D., Gerber, J., Mainka, A., Mürbe, D., & Hahne, A.
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(2014). Traktographie des Fasciculus arcuatus in prälingual ertaubten Patienten. In: M. Gross & R. Schönweiler (Hrsg.). Aktuelle phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2013, Band 22, German Medical Science GMS Publishing House, Düsseldorf, S. 41-42
Finkl, T., Anwander, A., Friederici, A.D., Gerber, J., Mainka, A., Mürbe, D., & Hahne, A.
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(2016). Sprache ohne Laut: Strukturelle Besonderheiten im Sprachnetzwerk von prälingual ertaubten Erwachsenen. In: M. Gross et al. (Hrsg.). Aktuelle phoniatrischpädaudiologische Aspekte 2016, Band 24, German Medical Science Publishing House, Düsseldorf, S. 74-76
Finkl T, Anwander A, Friederici AD, Gerber J, Mürbe D, Mainka A, Hahne A
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(2019). Language without speech: Segregating distinct circuits in the human brain. Cerebral Cortex
Finkl, T., Hahne, A., Friederici, A.D., Gerber, J., Mürbe, D. & Anwander, A.