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Kontrafaktische Geschichtsmodellierung im sowjetischen und postsowjetischen Russland

Fachliche Zuordnung Europäische und Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften
Förderung Förderung von 2012 bis 2018
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 185153653
 
Erstellungsjahr 2020

Zusammenfassung der Projektergebnisse

In der ersten Förderperiode widmete sich das Projekt der Untersuchung der narrativen und rhetorischen Dimension kontrafaktischer Gedankenexperimente des Typus reductio ad absurdum im Spannungsfeld von Wissenschaft und Literatur am Beispiel der russischen Kultur (19.–20. Jh.). Das Unterprojekt P6.1 erforschte die Rolle kontrafaktischen Denkens in russischen fiktionalen Texten des Naturalismus, die die vom Zola’schen „Experimentalroman“ propagierten biologistischen Theorien kontrafaktisch widerlegen. Unterprojekt P6.2 fokussierte auf kontrafaktische Gedankenexperimente in Thomas Malthus’ Bevölkerungstheorie sowie deren Rezeption in der russischen Kultur, in der sie als Ausgangspunkt für den Entwurf sozioökonomischer Modellerzählungen und literarischer Dystopien dienen. In Publikationen und Vorträgen konnte gezeigt werden, dass im russischen Naturalismus die literarische Evidenz des Kampfes ums Dasein durch die Anwendung der kontrafaktischen Argumentationsform reductio ad absurdum als bloße Simulation wissenschaftlicher Evidenz entlarvt wird (P6.1). Die literarisch realisierte kontrafaktische Widerlegung u.a. von Malthus’ Bevölkerungstheorie und Jeremy Benthams Utilitarismus vollzieht sich, wie Analysen zu literarischen Utopien bzw. Dystopien der russischen Literatur des 19.Jahrhunderts zeigten, in einem für diese kontrafaktisch Widerlegung konstitutiven dynamischem In-Szene-Setzen der Theorien in fiktiven Welten (P 6.2). In der zweiten Förderperiode vorschob sich der Fokus des Projekts – gemäß der Neuausrichtung der Forschungsgruppe – auf die Pragmatik des Kontrafaktischen auf der Makroebene kultureller Prozesse. Unter dem Titel „Kontrafaktische Geschichtsmodellierung im sowjetischen und postsowjetischen Russland“ untersuchte das TP kulturelle Bedingungen und Funktionen sowie strukturelle Eigenschaften kontrafaktischen Erzählens in Bezug auf die historische Vergangenheit. Untersuchungsgegenstand hierfür waren Geschichtswissenschaft und fiktionale Literatur in der sowjetischen und postsowjetischen Kultur. Einerseits wurde die Kulturgeschichte des geschichtswissenschaftlichen Gedankenexperiments in der sowjetischen und postsowjetischen Kultur untersucht. Hier galt es, die Validität der gängigen Forschungsmeinung zu überprüfen, wonach kontrafaktische Alternativgeschichte in Russland sich erst im postsowjetischen Zeitalter entwickle. Dagegen konnte gezeigt werden, dass gerade unter den Bedingungen des Dogmas der Zwangsläufigkeit historischer Entwicklung nicht auf Kontrafaktizität verzichtet wurde. Nomothetische und theorieüberprüfende Gedankenexperimenten dienten dazu, die auf der Grundlage der Entwicklungsgesetze des Historischen Materialismus postulierte Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit stattgefundener Geschichte zu bewiesen. Andererseits wurden die Konjunkturen kontrafaktischen literarischen Erzählens in der russischen Literatur seit Anfang der 1970er Jahre analysiert. Das Projekt widmete sich hier insbesondere einer diskurskritischen und narratologischen Untersuchung der hochgradigen Ambivalenz der Popularität literarischer Alternativgeschichte zwischen 1990 bis 2010. Hier reicht das Spektrum von kontrafaktischen Infragestellungen historischheroischer Topoi bis hin zu einer kontrafaktisch argumentierenden neoimperialistischen Beschwörung nationaler Größe. Zur Untersuchung dieses Phänomens erwies sich der Fokus der Untersuchungen auf die erinnerungskulturelle Dimension kontrafaktischen Erzählens als besonders produktiv. Es wurde gezeigt, dass Erinnerung unter der Voraussetzung des Kontrafaktischen maßgeblich an der Realisierung von Wunschdynamiken beteiligt ist, mit besonderer Affinität zu politischer Restauration.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

 
 

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