Wissenschaft und Landeskultur: Volkskundliches Wissen im staatlichen Reorganisationsprozess (Baden-Württemberg 1952-1977)
Final Report Abstract
In Fortführung des 2006 bis 2008 durchgeführten DFG-Forschungsprojekts „Konstituierung von Region als Wissensraum. Der Beitrag von Volkskunde und Sprachforschung in Württemberg (1890-1930)“ untersuchte das Projekt die Rolle volkskundlichen Wissens in der südwestdeutschen Nachkriegszeit. Gestützt auf Konzepte der kulturwissenschaftlich-anthropologischen Wissensforschung konnten die Bedingungen und Strategien der Etablierung einer wissenschaftlichen Volkskunde im Reorganisationsprozess des neuen Südweststaates rekonstruiert werden. Dabei hat sich besonders die Nähe zwischen einer staatsnah operierenden Ressortforschung, einer kulturpolitisch agierenden angewandten Wissenschaftspraxis und einer universitär sich wieder etablierenden akademischen Forschung als bedeutsam erwiesen. Die zunächst unübersichtlich erscheinenden Strukturen vor allem während der Aufteilung in drei Besatzungszonen boten aufgrund ihrer noch aus der Vor-NS-Zeit bestehenden Milieus, die nun reaktiviert werden konnten, den maßgeblichen Akteuren in den verschiedenen Wirkungsfeldern die Möglichkeit, gemeinsame Interessen öffentlich aufzuwerten und damit den Status des ideologisch belasteten Fachs und seiner Themen in der Öffentlichkeit nachhaltig zu verbessern. Im Kontrast zu den sich als höchst modern gerierenden Arbeitsweisen (Dokumentationsmethoden, Medienkooperationen etc.) sorgen in inhaltlicher, begrifflicher und auch personeller Hinsicht zunächst Kontinuitäten für ein Bild höchster Ambiguitäten. So glich die Einrichtung einer regional anerkannten volkskundlichen Landeskunde (als Verwalterin einer Art „Landeskultur“) über weite Strecken einer Wiedereinrichtung der in den vormaligen Ländern Baden und Württemberg in den 1920/30er Jahren etablierten Strukturen – freilich begleitet von Konflikten und Aushandlungen um die Machtverhältnisse innerhalb der neuen gemeinsamen staatlichen und staatsnahen Institutionen. Angestammte Felder (z.B. Mundartforschung) und Formate (z.B. Staatliche Landesbeschreibung) lieferten zunächst ausreichende Legitimierung, integrierten neue Gegebenheiten (z.B. Heimatvertriebene) und ließen anfangs nur zaghafte Innovationen zu. Über die Wissen(schaft)sgeschichte der Volkskunde hinausweisend erbrachte die Forschung Material und Ansätze für eine wissensanthropologische Untersuchung von Strukturbedingungen, Handlungsoptionen und Wissensmanagement im Feld kleiner, aber öffentlichkeitswirksamer, geisteswissenschaftlicher Fächer.
Publications
- Der Volkskundler als Wissensagent. Richard Beitls Wirken zwischen Wissenschaft, Medien und regionaler Praxis. In: K. Beitl, P. Strasser (Hg.): Richard Beitl (1900–1982). Wissenschaft – Dichtung – Wirken für die Heimat (= Montafoner Schriftenreihe, 21). Schruns 2009, S. 167–186
Bernhard Tschofen
- Dialekt und regionale Kulturforschung. Traditionen und Perspektiven einer Alltagssprachforschung in Südwestdeutschland. Tübingen 2009
Lioba Keller-Drescher, Bernhard Tschofen
- „Auf diese Weise vorbereitet“. Praktiken des Wissensmanagements zwischen Volkskunde und Landesbeschreibung. In: Volkskundliches Wissen. Akteure und Praktiken. Berliner Blätter 50. Berlin 2009, S. 15-26
Lioba Keller-Drescher
- Historische Ethnografie. Das Beispiel Archiv. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde. 106 (2010), Zürich 2010, S. 243-265
Lioba Keller-Drescher, Gesa Ingendahl
- Jüdische Volkskunde? Agenden, Hypotheken, Perspektiven. In: B. Johler, B. Staudinger (Hg.): Ist das jüdisch? „Jüdische Volkskunde“ im historischen Kontext. Wien 2010 (= Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 113/2010), H. 3+4, S. 635–654
Bernhard Tschofen