Intendierte Irregularität: Wortschöpfung zwischen Universalität und Einzelsprachlichkeit
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Als Wortschöpfung werden in dem Projekt morphologische Techniken wie Kürzung (Limonade > Limo), Kreuzung (nein x ja > jein) u.a. bezeichnet. Diese entsprechen zwar nicht den normalen Wortbildungsregeln, werden von den Sprachbenutzern aber dennoch eingesetzt, um Wörter mit bestimmten phonetischen und morphologischen Eigenschaften zu prägen, die sich mit den regulären Wortbildungsmitteln ihres Systems nicht oder nur schwer erzeugen lassen. Dabei werden die Sprachbenutzer geleitet und gleichzeitig eingeschränkt einerseits durch bestimmte universelle physische und kognitive Fähigkeiten wie z.B. das Erkennen und Nachahmen von Lautgestalten, andererseits durch die grundlegenden strukturellen Eigenschaften ihres Sprachsystems und gewisse außersprachliche Faktoren wie das verwendete Schriftsystem und die prinzipielle Einstellung der Sprachgemeinschaft zu sprachlichen Normen. Über das relative Gewicht dieser Faktoren herrscht in der Sprachwissenschaft Uneinigkeit. Ziel des beantragten Projekts war es daher, im Bereich der Wortschöpfung die Wechselwirkung zwischen (a) möglicherweise universellen, kognitiv begründeten Tendenzen, (b) den einzelsprachlichen Systemen und (c) bestimmten außersprachlichen Faktoren an drei typologisch sehr verschiedenen Sprach- und Schriftsystemen zu untersuchen. Diese sind das Deutsche, zu dem schon einschlägige Ergebnisse vorlagen, das Farsi (die Nationalsprache des Iran, geschrieben mit einer leicht adaptierten Form der arabischen Schrift) und das Standardchinesische (pŭtōnghuà) mit seiner logographischen Schrift. Außerdem wurde punktuell auch das Französische herangezogen. Die Untersuchungskorpora wurden aus Wörterbüchern und Monographien, durch Internetrecherchen und durch Explorationsreisen im Land zusammengetragen und mit Hilfe einer Datenbank analysiert. Analysekategorien waren einerseits verschiedene Wortschatzdomänen wie der Allgemeinwortschatz, bestimmte Fachsprachen, Waren- und Unternehmensnamen u. dergl., andererseits die Kategorien einer Typologie von Wortschöpfungstechniken, die ursprünglich für deutsche Markennamen entworfen worden war. Im Ergebnis zeigt sich, dass trotz der großen sprachlichen Unterschiede auch persische und chinesische Wortschöpfungen durch diese Typologie erfasst werden können. Die strukturellen Unterschiede wirken sich lediglich durch die Blockierung von Techniken aus, die mit der grammatischen Struktur einer Sprache nicht vereinbar sind, hingegen kaum durch die Schaffung neuer, einzelsprachlicher Techniken. Die Typologie scheint also gewissermaßen einen internationalen „Pool“ von Wortschöpfungstechniken darzustellen, aus dem jede Sprache diejenigen auswählt, die mit ihrer Grammatik, ihrem Schriftsystem und ihren pragmatischen Normen vereinbar sind. Unter diesen genießen Techniken, die direkt in universellen kognitiven Fähigkeiten verankert sind, einen Selektionsvorteil. Kognitive Faktoren steuern auch den Einsatz der Techniken in den verschiedenen Wortschatzdomänen: Für die Kreation von Eigennamen werden durchweg Techniken zur Erzeugung morphosemantisch opakerer Wörter bevorzugt als für die Schöpfung von Appellativa, weil als Eigenname eine morphologisch ungegliederte, „etikettierende“ Benennung (Seiler 1975) konstruktionell ikonischer ist als eine transparente Beschreibung des Referenten. Auch in lautlicher Hinsicht bewirkt Wortschöpfung oft einen besseren Ausgleich zwischen bestimmten gegenläufigen universellen Tendenzen, als er im Normalwortschatz realisiert ist. Eine Quelle und gleichzeitig ein praktisches Anwendungsgebiet für die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Projekts ist die Kreation von Waren- und Unternehmensnamen. Bestimmte Ergebnisse fließen bereits jetzt in die Lehre in einem internationalen Masterstudiengang über interkulturelle Werbung ein. Aus dem Projekt sind eine Reihe von Masterarbeiten und eine Dissertation hervorgegangen. Insgesamt hat das Projekt einen Beitrag zur Erschließung des in der Linguistik bisher nur wenig behandelten sog. extra-grammatischen Bereichs geleistet, der zwar außerhalb des grammatischen Systems und der sprachlichen Norm liegt, jedoch trotzdem von den Sprachbenutzern zu kommunikativen Zwecken genutzt werden kann.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- (2012): „Blending between grammar and universal cognitive principles: Evidence from German, Farsi, and Chinese.“ In: Renner, Vincent; Maniez, François; Arnaud, Pierre (eds.): Cross-disciplinary perspectives on lexical blending, 115-143. Berlin/New York: De Gruyter Mouton (TiLSM 252)
Ronneberger-Sibold, Elke
- (2014): „Tuning morphosemantic transparency by shortening : a cross-linguistic perspective.“ In: Rainer, Franz; Dressler, Wolfgang U.; Gardani, Francesco; Luschützky, Hans Christian (eds.): Morphology and Meaning: Selected papers from the 15th International Morphology Meeting, Vienna, February 2012. - Amsterdam : Benjamins, S. 275-287. (Amsterdam studies in the theory and history of linguistic science : Series IV, Current Issues in Linguistic Theory ; 327)
Ronneberger-Sibold, Elke
- « Les amalgames français et allemands: Une explication structurale des différences ». Neologica 9: Revue internationale de néologie 9 (2015): 113-132
Ronneberger-Sibold, Elke
(Siehe online unter https://dx.doi.org/10.15122/isbn.978-2-8124-4838-6.p.0113) - „Word creation.“ In: Müller, Peter O.; Ohnheiser, Ingeborg; Olsen, Susan; Rainer, Franz (eds.): Word Formation. An international Handbook of the Languages of Europe, Volume 1. Berlin/New York: De Gruyter Mouton, Artikel 27, 485-499, 2015
Ronneberger-Sibold, Elke
- „Word formation and brand names.“ In: Müller, Peter O.; Ohnheiser, Ingeborg; Olsen, Susan; Rainer, Franz (eds.): Word Formation. An international Handbook of the Languages of Europe, Volume 3. Berlin/New York: De Gruyter Mouton, Artikel 121, S. 2192-2210, 2015 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ; 40,3). - 978-3-11-037566-4
Ronneberger-Sibold, Elke
- „Markiertheitsabbau durch intendierte morphologische Irregularität: Schriftbasierte Wortschöpfung im Deutschen, Farsi und Chinesischen.“ In: Bittner, Andreas ; Köpcke, Klaus-Michael (Hrsg.):
Regularität und Irregularität. - Berlin : Akademie Verlag, 2016. - (Lingua Historica Germanica).
Ronneberger-Sibold, Elke; Kazzazi, Mir Kamaladin; Potsch-Ringeisen, Stefanie