Detailseite
Projekt Druckansicht

Israelkritik, Umgang mit der deutschen Geschichte und Ausdifferenzierung des modernen Antisemitismus

Fachliche Zuordnung Empirische Sozialforschung
Förderung Förderung von 2008 bis 2012
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 74851550
 
Erstellungsjahr 2013

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Im Zentrum des Forschungsprojektes standen drei Fragestellungen, die das Verhältnis von Israelkritik, Umgang mit der deutschen Geschichte und Ausdifferenzierung des modernen Antisemitismus betreffen. Zum einen sollte mittels moderner testtheoretischer Analysemethoden in einer repräsentativen Feldstudie untersucht werden, wie sich die verschiedenen Facetten des Antisemitismus zu individuellen Einstellungsmustern kombinieren, wie diese verteilt sind und wie antisemitisch motivierte Israelkritik gegenüber anderen Formen der Israelkritik abgegrenzt werden kann. Zum anderen sollte mittels Inhaltsanalysen der deutschen Qualitätspresse und einer experimentellen Untersuchung Aufschluss darüber gewonnen werden, ob und ggf. wie die Medienberichterstattung über den Nahost-Konflikt zur Formierung antiisraelischer Einstellungen beiträgt, und drittens sollte mittels eines Quasi-Experimentes untersucht werden, wie filmische Darstellungen des Holocaust im Geschichtsunterricht von den Schülern verarbeitet werden. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes zeigten, 1. dass das Potential für antisemitische, antizionistische, antiisraelische, aber auch antipalästinensische bzw. antimuslimische Einstellungen in Deutschland erschreckend hoch ist, und zwar nicht nur an den Rändern, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft; 2. dass manifester sekundärer und latenter Antisemitismus tatsächlich nur verschiedene Ausdrucksformen oder Facetten von Antisemitismus schlechthin darstellen, während 3. Antizionismus eine eigenständige Einstellungsdimension darstellt, die nicht mit Antisemitismus gleichgesetzt werden kann. 4. Für antiisraelische Einstellungen gilt dies sogar noch in schärferem Maße. Hier liegt nicht einmal eine einheitliche antiisraelische Einstellungsdimension zugrunde, sondern es gibt qualitativ verschiedene antiisraelische Einstellungsmuster, die zudem mit der Einstellung gegenüber den Palästinensern interagieren. 5. Die mentalen Modelle, mittels derer die Probanden den israelisch-palästinensischen Konflikt zu verstehen versuchen, haben sowohl eine affektive als eine kognitive Komponente, wobei sich mit zunehmender emotionaler Nähe zu dem Konflikt auch die Sensitivität für die Ambivalenz von Krieg und Frieden im Nahen Osten verändert (affektive Komponenten) und die Positionierung der Probanden zu dem Konflikt (kognitive Komponente) zugunsten der Palästinenser verschiebt und radikalisiert. 6. Diese Verschiebung ist unter anderem eine Funktion des Menschenrechtsengagements der Probanden, welches zugleich aber jeglichen rassistischen Vorurteilen, seien sie antisemitischer, antizionistischer, antiisraelischer oder antipalästinensischer Art, entgegenwirkt. 7. Tatsächlich lassen sich zwei verschiedenen Formen der Israelkritik unterscheiden, deren eine antisemitisch motiviert ist und sich umso stärker zugunsten der Palästinenser positioniert, je stärker der Antisemitismus der Probanden ausgeprägt ist, während die andere Form der Israelkritik keinerlei Antisemitismus zeigt und durch Pazifismus, Menschenrechtsengagement und die Ablehnung von Moral Disengagement geprägt ist. 8. Auch ursprünglich nicht-antisemitisch motivierte Israelkritik läuft jedoch Gefahr, in die Entwicklung (einzelner) antisemitischer Vorurteile abzugleiten. 9. Diese Gefahr wird durch die Medienberichterstattung über den israelisch-palästinensischen Konflikt möglicherweise verschärft. 10. Zwar kann der Vorwurf einer einseitig pro-palästinensischen Berichterstattung (zumindest für die deutsche Qualitätspresse) zurückgewiesen werden, doch lässt die Berichterstattung Israel als übermächtig und kompromisslos erscheinen, was eine Solidarisierung mit den Palästinensern begünstigt. 11. In Verbindung damit, dass für Israel ungünstige Berichtslagen durch eine israelfreundliche Presseberichterstattung konterkariert werden, könnte dies den Nährboden für Ressentiments bilden, die von der verzerrten Wahrnehmung einer Selbst-Zensur des Journalisten bis hin zu einer offen verschwörungstheoretischen Sicht auf den vermeintlichen Einfluss des Weltjudentums auf die deutsche Presse reichen könnten. 12. Wenn die Medienberichterstattung tatsächlich zur Wiederbelebung antisemitischer Vorurteile beitragen sollte, dann ist dies nicht dem linearen Einfluss einer (angeblich) israelfeindlichen Medienberichterstattung geschuldet, sondern der Art und Weise, in der die Berichtslage und ihr Framing durch die Medienrezipienten kognitiv verarbeitet wird. 13. Informationen und/oder Frames, die mit den a priori mentalen Modellen der Probanden inkompatibel sind, werden als parteilich, verzerrt etc. abgewehrt, und je stärker sich die Rezipienten zugunsten einer der Konfliktparteien positionierten, desto stärker tendierten sie dazu, auch neutrale Peace-Frames als parteilich zugunsten der Gegenseite wahrzunehmen. 14. Zugleich zeigten sich die Probanden auch sensibel für die Propagandafunktion von Berichten über (gegnerische) Gewalt und ihre Opfer, und je stärker sie sich zugunsten einer Partei positionierten, desto mehr lehnten sie Berichte über von ihr ausgeübte Gewalt als für die Gegenseite parteilich ab. 15. Dadurch werden die Effekte sowohl der Nachrichtenselektion als auch des Framings der Nachrichten abgeschwächt; und obwohl sich solche Effekte durchaus nachweisen lassen, sind es die bereits a priori bestehenden mentalen Modelle der Rezipienten, welche den stärksten Einfluss darauf ausüben, wie die Nachrichten von den Rezipienten verarbeitet werden. 16. Dass mit linearen Effekten von Medienprodukten nicht gerechnet werden kann, dass sie auch kontraindizierte Effekte zeitigen können, zeigt sich bei der Verarbeitung von Holocaust- Dokumentarfilmen in vielleicht noch dramatischerer Weise. 17. Zwar konnte durch die Konfrontation mit den Filmen die Weigerung der Rezipienten (hier: Schüler und Schülerinnen), über Juden zu sprechen bzw. sich mit ihnen auseinanderzusetzen, signifikant reduziert werden, doch wiesen jene, die sich mit Deutschland besonders stark identifizieren, eine (Mit-)Schuld der deutschen Bevölkerung besonders deutlich zurück und/oder sie beschuldigten die Opfer des Holocaust, sich zu wenig gewehrt zu haben. 18. Das Problem dürfte hier vor allem darin zu suchen sein, dass die Konfrontation mit den Filmen geeignet ist, gruppenbasierte Scham auszulösen, der die Rezipienten entweder hilflos ausgeliefert sind oder die sie durch verschiedene Distanzierungsstrategien wie eine Distanzierung von den Opfern und/oder die Zurückweisung der Relevanz des Holocaust für das heutige Deutschland abwehren. 19. Ob und wie stark sich solche kontraindizierten Wirkungen einstellen, hängt nicht zuletzt auch davon ab, mittels welcher filmischen Mittel der Holocaust dargestellt wird. So begünstigt die Reduzierung der Juden auf die Opferrolle den Prozess der Schuldumkehr und die Verwendung von historischem Filmmaterial kann sowohl antisemitische Stereotype transportieren als auch den Eindruck erwecken, dass der Holocaust für das heutige Deutschland keine Rolle mehr spielt. 20. Interviews mit Zeitzeugen – namentlich mit Angehörigen der Täterseite – tragen die Gefahr einer Übernahme der Täterperspektive und/oder des Abwälzens von Verantwortung von der deutschen Bevölkerung auf die politischen Eliten (v.a. Hitlers) in sich. 21. Als Gegenmittel gegen solche kontraindizierten Effekte erwies sich einzig eine Form der filmischen Darstellung des Holocaust, die den Probanden die Möglichkeit zur Identifikation mit einer positiv besetzten Teil-In-Group (hier: mit kritischen deutschen Journalisten und Experten) ermöglichte, wodurch das Zulassen aversiver Emotionen erleichtert wurde.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2011): Mental Models of the Israeli-Palestinian Conflict. Journal for the Study of Antisemitism, 3/2, 101-136
    Wilhelm Kempf
  • 2011): Israelkritik und Antisemitismus? Eine vergleichende Analyse der deutschen Presseberichterstattung über 2. Intifada und Gaza Krieg. conflict & communication online, 10/2, 1-21
    Markus Maurer & Wilhelm Kempf
  • (2012): On the interaction between media frames and individual frames of the Israeli-Palestinian conflict. conflict & communication online, 11/2, 1-18
    Wilhelm Kempf & Stephanie Thiel
  • (2012): Peace Journalism, the Israeli-Palestinian conflict and the German Press. Bulletin du Centre de Recherche Français à Jérusalem, 23
    Wilhelm Kempf
  • (2012): Representations of victimization and responsibility during the Second Intifada and the Gaza War in German quality newspapers. conflict & communication online, 11/2, 1-31
    Felix Gaisbauer
  • (2012): Scorebildung, Klassische Testtheorie und Item-Response Modelle in der Einstellungsmessung. In: Kempf, Wilhelm & Rolf Langeheine (Hrsg.). Item-Response-Modelle in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Berlin: regener, 32-54
    Wilhelm Kempf
  • (2013): Umgang mit der deutschen Geschichte: Reaktionen der 3. Nachkriegsgeneration auf filmische Darstellungen des Holocaust conflict & communication online, 12/1, 1-36
    Johannes Kopf-Beck, Felix Gaisbauer & Susanne Dengler
 
 

Zusatzinformationen

Textvergrößerung und Kontrastanpassung