Natur, Krise und Reform bei den Satere-Mawe
Final Report Abstract
Die indigenen Gesellschaften Brasiliens wurden im westlichen Diskurs zu Musterbeispielen vorbildlicher, ökologisch nachhaltiger Umweltbeziehungen. Dieses Narrativ vernachlässigt aber die historische Tatsache, dass die indigenen Gesellschaften diesen Erwartungen auf Basis von weitgehend beeinträchtigten, wenn nicht gar zerstörten Strukturen gerecht werden müssen. Das Projekt untersuchte Beziehungen zwischen Mensch und Natur bei den Sateré-Mawé im brasilianischen Amazonasgebiet in ihrer historischen Bedingtheit auf der einen, und vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen auf der anderen Seite. Im Zentrum der Untersuchung lag auf Basis der im ersten Projektabschnitt gewonnen Erkenntnisse die Rolle konditionaler (reziproker) und nicht-konditionaler (nicht-reziproker) Mensch-Natur-Beziehungen. Dazu wurden Zeitzeugen und insbesondere relevante indigene Akteure der extraktivistischen Naturbeziehungen nach ihrer heutigen, rückblickenden Sicht befragt, Archivarbeit im Museu Amazônico der Universidade Federal do Amazonas (UFAM) in Manaus durchgeführt und aktuelle Transformationsprozesse der Mensch-Umwelt-Beziehungen untersucht. Insgesamt wurde eine deutliche Ausweitung nicht-konditionaler Umweltbeziehungen auf Kosten konditionaler Mensch-Umwelt-Beziehungen festgestellt, welche mit einem zunehmenden Bedeutungsverlust der Waldumwelt einhergeht. Diese Entwicklung wird aktuell besonders durch staatliche Transferzahlungen intensiviert. Nicht-konditionale wie konditionale Umweltbeziehungen haben bei den Sateré-Mawé eine lange Geschichte und sind in der indigenen Kosmologie verankert. Erstere im Bereich der schamanischen spirituellen Zurverfügungstellung von Jagdwild. Im Bereich der konkreten interaktiven Auseinandersetzung mit dem Wald im Zuge der Jagd, des Sammelns und der Landwirtschaft dominiert hingegen eine voraussetzungsvolle, reziproke Beziehung und ein Regime der Achtsamkeit. Nicht-konditionale Umweltbeziehungen waren also durch Spezialisten, zuerst Schamanen, später "tuxauas" und "capitães" vermittelt, die als Broker natürliche wie westliche Ressourcen aus der Umwelt zur Verfügung stellten und gegenüber der sozialen Gemeinschaft integrierend gewirkt haben. Der zentrale Unterschied zu den gegenwärtigen staatlichen Transferzahlungen ist, dass diese erstmals einen dauerhaften, individuellen und direkten Zugang zu finanziellen Ressourcen und somit westlichen Gütern und dem urbanen Kontext ermöglichen, unabhängig von der Veräußerung landwirtschaftlicher Produkte und den dafür notwendigen kollektiven, vom „tuxaua“ organisierten Arbeiten. Es findet also nicht nur eine Abkehr von der Wald-Umwelt und Hinwendung zu nicht-konditionalen Mensch-Umwelt-Beziehungen bei einer wachsenden Wichtigkeit der urbanen Zentren statt, sondern auch eine Transformation grundlegender sozialer Beziehungen und lokaler Machtverhältnisse. Dies führt zu einer Stärkung der Unabhängigkeit der Familienbande und ihrer heterogenen Interessen und zu einer Schwächung der Fähigkeit der "tuxauas" und "capitães" innerhalb der Sateré-Mawé integrierend zu wirken.