Untersuchungen zur Sprachsituation im thüringisch-bayerischen Grenzgebiet. Neue Dialektgrenzen an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze nach vier Jahrzehnten politischer Spaltung?
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die „Untersuchungen zur Sprachsituation im thüringisch-bayerischen Grenzgebiet“ waren das erste und sind das bis heute einzige Projekt, in dem der Frage nachgegangen wurde, ob in vier Jahrzehnten politischer Spaltung an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze neue Dialektgrenzen entstanden sind. Nach Ausweis von Arbeiten zum Sprachstand vor der Errichtung der Grenze hatte es nämlich grenzübergreifende, dialektgeographisch einheitliche Räume beiderseits der damaligen Landesgrenze zwischen Bayern und Thüringen gegeben. Die Frage, die sich stellte, war, ob die vier Jahrzehnte dauernde hermetische Abriegelung, die auch eine Sperre des direkten Sprachkontakts bedeutete, ausgereicht hatte, die politische Grenze in Bezug auf die dort gesprochenen Dialekte auch zu einer sprachlichen Grenze werden zu lassen. Untersuchungen an anderen Staatsgrenzen im deutschsprachigen Raum, etwa an denen zwischen Deutschland und Österreich oder der Schweiz, hatten zwar gezeigt, dass eine politische Grenze mit der Zeit immer auch eine Grenze in einen vorher homogenen Dialektraum legt, doch hatten sich diese Divergenzprozesse an relativ offenen Grenzen und über Jahrhunderte hinweg vollzogen. In Bezug auf den historisch bisher einmaligen Fall eines undurchdringlichen „Eisernen Vorhangs“ war nun zu prüfen, ob die Kürze des Bestehens dieser Grenze durch den hohen Grad der Abriegelung ausgeglichen wurde und dieser Umstand die gleichen dialektalen Grenzbildungseffekte hervorbrachte. Aus einem Vorprojekt von Anfang der 1990-er Jahre lagen Interviews von über 400 Gewährspersonen vor, die an die 200 Stunden Tonaufnahme-Material ergaben. Die Erhebungen waren in vier Altersgruppen in insgesamt elf Ortspaaren durchgeführt worden, die von jeweils einem Ort aus der ehemaligen DDR und einem aus der alten Bundesrepublik gebildet wurden, darunter das geteilte Dorf Mödlareuth („Little Berlin“). Die Daten aus der ältesten Generation bildeten den Anschluss an die Daten aus der Zeit vor der Grenz-Errichtung, die Daten aus den drei jüngeren Generationen sollten Auskunft über möglichen Sprachwandel geben. An vielen Kriterien der dialektalen Lautung, Formenbildung und Wortverwendung konnte dann tatsächlich gezeigt werden, dass die deutsch-deutsche Grenze zu einer neuen Dialektgrenze geworden war. Zum Beispiel wurde der thüringische ‚hintere’ R-Laut, der vorher auch in bayerischen Orten gesprochen worden war, an die Grenze zurückgedrängt. Dasselbe geschah in umgekehrter Richtung mit dem ‚bayerischen’ (eigentlich fränkischen) Zungenspitzen-r, das vorher auch in thüringischen Orten gesprochen worden war und sich nun an die Grenze zurückzog. Die Materialauswertung erbrachte ferner, dass die Wahrnehmung von Sprachräumen durch die Dialektsprecher („mentale“ Sprach-„Landkarten“) stark vom Wissen um die politischen Räume beeinflusst ist. Aus der Vorkriegszeit überkommen waren Laienauffassungen der Art, dass etwas sprachlich „bayerisch“ ist, wenn es nur auf politisch bayerischem Boden gesprochen wird, und etwas sprachlich „thüringisch“ ist, wenn es nur auf politisch thüringischem Boden gesprochen wird – ob das im dialektgeographischen Sinne stimmte oder nicht. Diese Denkweise wurde durch die Teilung Deutschlands dann auf den Gegensatz „wie hüben“ versus „wie drüben“ Klingendes übertragen und hatte Folgen für die Umbildung der faktischen Sprachräume. Zum Beispiel wurde auf westlicher Seite von den Jüngeren die Vokalartikulation aufgegeben, die man landläufig als „Sächseln“ bezeichnet, weil sie zu stark „nach DDR“ klang. Das Projekt konnte also zeigen, dass die innerdeutsche politische Grenze in doppelter Weise auch zur sprachlichen Grenzbildung geführt hatte: durch Schaffung neuer faktischer Dialektgrenzen, die kongruent mit der politischen wurden, und durch die Projektion alter mentaler Sprachlandkarten auf die neue politische Grenze zwischen “hüben“ und „drüben“. Über dieses Vorhaben haben folgende überregionale Organe berichtet: Süddeutsche Zeitung vom 2./3. Oktober 2007 forschung – Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft 2/2009 (englisch in german research – Magazine of the Deutsche Forschungsgemeinschaft 3/2009) Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 8/2010
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2006). Dialektspaltung im thüringisch-bayerischen Grenzgebiet am Beispiel des Ortspaars Sparnberg/Rudolphstein. Wie eine politische Grenze zur Sprachgrenze wurde. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 73, 30-54
Michael Schnabel
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(2008). Neue Dialektgrenzen an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze? In: Dialektgeographie der Zukunft. Akten des 2. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD), Wien, September 2006. Hg. von Peter Ernst und Franz Patocka. Stuttgart: Steiner, 203- 218
Rüdiger Harnisch / Frank Reinhold / Michael Schnabel
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(2008). Zur Sprachsituation im ehemaligen deutsch-deutschen Grenzgebiet nach 40 Jahren politischer Spaltung. In: 50 Jahre Germanistik in Pécs. Akten eines internationalen Kongresses, Oktober 2006. Hg. von Peter Canisius und Erika Hammer. Wien: Praesens Verlag, 83-97
Rüdiger Harnisch
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(2009). Sprachliche Grenzgänge. Der „Eiserne Vorhang“ durchschnitt nicht nur die Heimat – im thüringisch-bayerischen Raum verschob die Teilung auch die Dialekte der Menschen. In: forschung – Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft 2/2009, 13-15
Rüdiger Harnisch
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Crossing the Language Barrier. The Iron Curtain not only bisected the inhabitants’ homeland – in the Thuringian-Bavarian region, the political divide also caused a surprising shift in their dialects. In: german research – Magazine of the Deutsche Forschungsgemeinschaft 3/2009, 15-17
Rüdiger Harnisch
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(2010). Dialektentwicklung am Rande des Eisernen Vorhangs. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 8/2010, 21-26
Rüdiger Harnisch
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(2010). Divergence of linguistic varieties in a language space. In: Language and Space. An International Handbook of Linguistic Variation. Vol. 1: Theories and Methods. Ed. by Peter Auer & Jürgen Erich Schmidt. Berlin / New York: De Gruyter, 275-295
Rüdiger Harnisch
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(2011). Wie die innerdeutsche Grenze zur Dialekt-Grenze wurde. In: Heimat Thüringen 2/2011, 24-27
Rüdiger Harnisch