Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto. Studien zu deutsch-jüdischer literarischer Kultur und Kommunikation in Berlin zwischen 1933 und 1938/43
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die regionalgeschichtlich auf den Raum Berlin ausgerichtete Habilitationsschrift unternimmt den Versuch, den seit Jahrzehnten betriebenen Forschungen zur Literatur des antifaschistischen Exils, zur Literatur der sogenannten „Inneren Emigration" und der NS-Literatur eine Betrachtung des „literarischen Lebens" von Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft, ihrer kulturellen und literarischen Aktivitäten im nationalsozialistischen Deutschland zwischen 1933 und 1945, an exemplarischen Studien vergleichend zur Seite zu stellen. Die Untersuchung platziert sich damit thematisch in einem Forschungsfeld, dem - ungeachtet bedeutsamer Vorarbeiten - noch immer klare Konturen fehlen. Literaturwissenschaftliche Forschung bleibt hier seit Jahrzehnten auffällig hinter der historischen Aufarbeitung dieser Jahre zurück und befestigt damit bis heute eine weitgehende Unkenntnis damaliger literarischer und künstlerischer Entwicklungen auch im öffentlichen Bewusstsein. Nach der ersten Massenemigration von 1933 hatten jedoch im nationalsozialistischen Deutschland noch etwa 1600-1700 Schriftsteller und Intellektuelle jüdischer Herkunft die zunächst jede Veröffentlichungsmöglichkeit voraussetzenden Aufnahmeanträge für den Reichsverband Deutscher Schriftsteller gestellt. Namen wie Gertrud Kolmar, Nelly Sachs, Franz Hessel, Emst Blass, Ludwig Meidner, Mascha Kaleko, Arthur Eloesser, Meta Samson, Leo Hirsch, Hilde Marx, Arthur Silbergleit, Amo Nadel, oder Ilse Blumenthal-Weiss stehen dabei für viele, die nicht, oder zunächst nicht aus Deutschland auswandern konnten oder mochten. Durchaus unterschiedlichen politischen wie auch künstlerisch-ästhetischen Richtungen verpflichtet, sahen sich nach 1933 Jedoch alle mit der Frage konfrontiert, ob und wie angesichts wachsender Bedrohung noch öffentlich gesprochen werden konnte oder sollte. Künstlerisch-ästhetische Konzepte entwickelten und veränderten sich vor dem Hintergrund der in einem (separierten) jüdischen Kulturkreis geführten „öffentlichen" Debatten. Die Habilitationsschrift konzentriert sich auf die weitreichenden Folgen der 1933 vom nationalsozialistischen Staat zerstörten „Symbiose" im deutsch-jüdischen Verhältnis und beschreibt, in welcher Weise die kollektive Erfahrung einer gescheiterten Emanzipation und der zunehmenden äußeren Bedrohung sowohl in literarischen Texten als auch kulturellen Debatten dieser Jahre manifest wird. Skizziert werden Brüche und Umbrüche bei dem Versuch des Aufbaus einer eigenständigen „jüdischen" literarischen Kultur in Berlin zwischen 1933 und 1945. In sowohl sozialgeschichtlich, als auch text- und diskursanalytisch ausgerichteten Studien wird der Frage nachgegangen, wieweit die damaligen kulturpolitischen und künstlerisch-ästhetischen Bemühungen von Schriftstellern und Intellektuellen jüdischer Herkunft als Ausdruck geistigen Widerstands in einer Zeit forcierter Gleichschaltung des deutschen Kulturlebens unter dem Nationalsozialismus beschreibbar sind, - eines Widerstands, der in Einzelfällen auch hinauszugehen schien über den Willen zur Selbstbehauptung (im Sinne einer inneren Stärkung angesichts zunehmender äußerer Repressionen und schließlich lebensbedrohender Vernichtung), und der sich ebenso manifestierte in einer Weigerung, mit der im Rahmen nationalsozialistischer Kulturpolitik aufgezwungenen Isolierung die Bindung an die europäische und Weltkultur aufzugeben und damit jahrhundertealte geistige humanistische Traditionen zu verleugnen. Die Untersuchung versteht sich im Ansatz als wissenschaftliches Plädoyer für die Erweiterung bisheriger Literaturgeschichtsschreibung um einen Teilbereich, der bislang in keiner der vorliegenden Geschichten deutschsprachiger Literatur auch nur Erwähnung findet.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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„Jüdische Lyrik der Zeit" - Kurt Pinthus' Lyrik-Anthologie in der Berliner C.V.-Zeitung vom April 1936. In: Deutschsprachige Exillyrik von 1933 bis zur Nachkriegszeit, hrsg. v. Jörg Thunecke, Amsterdam, Atlanta 1998, S. 119-140
Kerstin Schoor
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„Das Wort der Stummen": Sprechen und Schweigen in ,jüdischer Lyrik" in Deutschland nach 1933. In: ... wortlos der Sprache mächtig. Schweigen und Sprechen in der Literatur und sprachlicher Kommunikation, hrsg. v. Hartmut Eggert und Janusz Golec, Stuttgart 1999, S. 111-132
Kerstin Schoor
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Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto: Literarische Berlin-Bilder jüdischer Autoren in Deutschland nach 1933. In: Duitse Kroniek Nr. 50: Das Jahrhundert Berlins: Eine Stadt in der Literatur, hrsg. v. Jattie Enklaar und Hans Ester. Rodopi, Amsterdam-Atlanta 2000, S. 93-116
Kerstin Schoor
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„Aber wenn ich dächte, das Leben, die Welt, die Menschheit ist Fortschritt..." - Der Journalist und Schriftsteller Leo Hirsch (1903-1943). In: Im Schatten der Literaturgeschichte. Autoren, die keiner mehr kennt?, hrsg. v. Jattie Enklaar und Hans Ester. (Duitse Kroniek 54), Amsterdam- Atlanta: Rodopi 2005, S. 210-250
Kerstin Schoor
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„O dürft ich Stimme sein, das Volk zu rütteln!". Kari Wolfskehls literarische Wirkungen im jüdischen Kulturkreis in Deutschland nach 1933. In: „O dürft ich Stimme sein, das Volk zu rütteln'". Leben und Werk von Kari Wolfskehl (1869-1948), hrsg. von Elke-Vera Kotowski u. Gert Mattenklott, Hildesheim, Zürich, New York: 2007, S. 93-119
Kerstin Schoor