Die Entwicklung rechtlicher Vorstellungen und Orientierungen in der Adoleszenz im Kontext religiös-kultureller Differenz
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Zielsetzung und Ausgangsfragen: Das Projekt zielte auf ein bislang kaum erforschtes Thema: die Entwicklung rechtlicher Vorstellungen in der Adoleszenz. Untersucht wurde, wie Jugendliche Menschenrechte, Rechtsnormen und rechtlich relevante Normenkonflikte verstehen und beurteilen. Theoretisch schließt das Projekt an die Bereichstheorie der sozialen Kognition an. Dieser Ansatz postuliert, dass soziale Urteile innerhalb von Wissensbereichen organisiert werden. Unterschieden werden die Bereiche Moral, Konvention und Person. Unsere These ist, dass auch das Recht und die Religion zum Teil als eigene Bereiche zu verstehen sind. Untersucht wurde daher, wie die normativen Anforderungen aus den verschiedenen Regelbereichen koordiniert werden, insbesondere wenn Normen, bspw. säkulare und religiöse Rechtsvorstellungen, im Konflikt stehen. Vorgehen: Befragt wurden 89 christliche und muslimische Jugendliche zwischen 13 und 23 Jahren. Sie sind alle deutsch-katholischer oder türkisch-sunnitischer Herkunft, in religiösen Gemeinden engagiert und in Deutschland aufgewachsen. Der Schwerpunkt der Befragungen, die primär mit halbstrukturierten Interviews, aber auch mit Fragebögen erfolgte, lag auf Menschenrechten und Normenkonfiikten, bei denen Recht und Moral oder säkulare und religiöse Normen konfligieren. Recht und Moral: Die Jugendlichen sehen einen engen inhaltlichen Zusammenhang und eine komplementäre Beziehung zwischen Recht und Moral: Die Moral legitimiert das Recht, dieses schützt die Moral, aber nur der Kernbereich der Moral soll verrechtlicht werden. Es gibt drei kontextspezifische Muster der Koordination von Recht und Moral: Neben der vorherrschenden Übereinstimmung moralischer und rechtlicher Urteile zeigt sich in akuten Notfällen häufig ein Primat der Moral, bei der Bestrafung von Gesetzesverstößen aber ein Primat des Rechts: Obwohl ein Gesetzesverstoß hier moralisch befünwortet wird, soll er bestraft werden. Diese Urteilsmuster sind nicht paradox, sondern reflektieren die unterschiedlichen normativen Anforderungen derjeweiligen Kontexte. Entwicklungsmuster Fünf Phasen im Verständnis von Rechtsnormen lassen sich unterscheiden. Das Recht wird schon auf Stufe 3 an moralischen Standards gemessen, der Aspekt der Rechtsstaatlichkeit wird aber erst auf Stufe 4 erkannt Entwicklungsspezifische Differenzen zeigen sich vor allem bei komplexen Normenkonflikten wie der ,Rettungsfolter': Das Urteilsniveau determiniert die Beurteilung der Folter nicht, das Erreichen der (transpersonalen) Stufe 4 geht aber mit der höheren Ablehnung der Folterdrohung und -anwendung und mit der stärkeren Beachtung rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Gesichtspunkte und ihres inneren Zusammenhangs einher. Menschenrechte: Es gibt eine große Diskrepanz zwischen der hohen allgemeinen Akzeptanz von Menschenrechten und ihrer häufigen Missachtung in konkreten Normenkonflikten. So genießt das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit große Akzeptanz, aber ein Drittel der Probanden stimmt schweren Menschenrechtsverletzungen wie der Todesstrafe und der Handamputation zu. Bei der „Rettungsfolter" bejahen sogar fast drei Viertel die Androhung, ein Drittel auch die Anwendung von Folter - in allen Fällen stimmen männliche Jugendliche der Verletzung dieses Rechts viel häufiger zu als weibliche. Ahnliche Diskrepanzen zeigen sich auch bei anderen Menschenrechten. Religiös-normative Orientierung: Für die muslimischen Jugendlichen ist die Religion ein zentrales Fundament der normativen Orientierung, dies gilt aber nur für wenige katholische. Bei der Koordination von Moral, Religion und Person sind sieben Haupttypen und vier Grundmuster unterscheidbar: Säkularismus, Koordination, Fundamentalismus und Konflikt. Der Konflikt zwischen Autonomie und religiöser Autorität stellt sich für die meisten Katholiken nicht, sie haben eine säkulare Orientierung - auf Kosten religiöser Traditionen. Je ein Viertel der Christen und Muslime lösen den Konflikt durch die Privatisierung religiöser Geltungsansprüche. Fundamentalisten und Orthodoxe lösen ihn durch die strikte Unterordnung des Menschen unter die Religion. Das Verhältnis von Autonomie und religiöser Autorität bleibt jedoch bei fast der Hälfte der Muslime konflikthaft und ungelöst. Religion und Moral: Die Befunde zeigen, dass die Religion als eigener Urteilsbereich zu verstehen ist und die Unterscheidung von Religion und Moral vom Religionsverständnis abhängt. Je strikter es ist, desto weniger werden Religion und Moral getrennt Moral und Religion können sich überlappen und die religiöse Orientierung hat starken Einfluss darauf, was als ,moralisch' angesehen wird. Zudem weist die normative Entwicklung bereichsspezifische Verschiebungen auf, die vom Religionsverständnis abhängen. Religiös-orthodoxes Denken folgt einem besonderen Entwicklungspfad. Insgesamt belegen die Befunde, dass die Theorie der Regelbereiche eine wichtige Grundlage für die Analyse und Rekonstruktion normativer Urteile bietet, sie zeigen jedoch auch, dass die Berücksichtigung des Rechts und der Religion eine wichtige Erweiterung der Bereichstheorie darstellt. Aus den Ergebnissen ergeben sich zahlreiche Konsequenzen für die praktische Anwendung In Ansätzen der politischen Bildung, der interreligiösen Bildung sowie der Moral- und Menschenrechtsbildung.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2005): Die Entwicklung von Rechtsvorstellungen im Kontext religiöskultureller Differenz, In: Dipf informiert. Journal des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung, Nr. 8, S. 12-17
Weyers, Stefan
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(2007): Menschenrechte zwischen Recht, Moral und Religion. Implikationen für die Menschenrechtsbildung in der mehrkulturellen Gesellschaft. In: Andresen, Sabine; Pinhard, Inga & Weyers, Stefan (Hrsg.) (2007): Erziehung - Ethik - Erinnerung. Pädagogische Aufklärung als intellektuelle Herausforderung. Micha Brumlik zum 60. Geburtstag. Weinheim: Beitz und Basel, S, 202-215
Weyers, Stefan