Die Rezeption der Reformpädagogik in der Arbeiterbewegung - ein Beitrag zu einer kritischen Rezeptionsgeschichte der Reformpädagogik
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Forschungsprojekt zur Rezeption der Reformpädagogik in der Arbeiterbewegung galt vor allem drei zentralen Fragen - erstens ob und in welchem Umfang Reformpädagogik durch die Arbeiterbewegung rezipiert worden ist, zweitens welche Bedeutung sie für deren eigenes bildungspolitisches und pädagogisches Selbstverständnis gewonnen hat und schließlich drittens inwieweit man von einer eigenständigen Ausprägung sozialistischer Reformpädagogik sprechen kann. Die Untersuchung stützte sich insbesondere auf zwei nichtpädagogische Periodika: Die Neue Zeit bzw. deren Nachfolgeorgan Die Gesellschaft sowie die Sozialistischen Monatshefte. Beide waren seit den 80er bzw. 90er Jahren des 19. Jahrhunderts bis 1933 fortlaufend erschienen, umfassen also den gesamten mit der Reformpädagogik identifizierten Zeitraum, hatten einen relativ hohen Verbreitungsgrad und einen prominenten, ein weites Spektrum sozialistischer Positionen abdeckenden Autorenstamm, so dass sie als repräsentativ für die theoretischen und politischen Diskurse innerhalb der Arbeiterbewegung gelten können, für die Weimarer Zeit allerdings nur für deren sozialdemokratischen Flügel. Mit einer Vielzahl pädagogischer Beiträge waren sie zugleich als Indikatoren für die genannten Fragestellungen geeignet. Im Ergebnis der Untersuchung lassen sich vor allem drei allgemeine Erkenntnisse formulieren: 1. Die Reformpädagogik wurde seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in den Zeitschriften nicht nur breit rezipiert, sondern trug als wichtige Impulsgeberin zur Entwicklung eines eigenen bildungspolitischen und pädagogischen Selbstverständnisses der Arbeiterbewegung bei. Aus der Reflexion der sozialen, politischen und pädagogischen Praxis und in konstruktiver Auseinandersetzung mit reformpädagogischen Ideen hatte die Arbeiterbewegung eine schulreformerische Plattform gefunden, die ausgehend vom Zusammenhang von Gesellschaft und Erziehung auf Gleichheit der Bildungs- und Entwicklungschancen, auf Einheitlichkeit und Weltlichkeit der Schule, auf Wissenschaftlichkeit der Bildung, auf Verbindung von Kopf- und Handarbeit, auf Erziehung zu Gemeinschaftlichkeit, Solidarität und Internationalität orientierte. 2. Besonders in der Weimarer Republik erlangten diese Ziele im Umfeld der Arbeiterbewegung an Gewicht, trugen zur Herausbildung einer linken pädagogischen Öffentlichkeit bei und schlugen sich in eigenständigen pädagogischen Praxisfeldern nieder, am deutlichsten ausgeprägt in der proletarischen Kinder- und Jugendarbeit, aber auch in zahlreichen Versuchsund Modellschulen. Spätestens hier entfaltete sich neben der bürgerlichen eine spezifische, vor allem von der sozialdemokratischen Arbeiterschaft getragene proletarisch-sozialistische (Reform-) Pädagogik, in der sich reformpädagogische Bestrebungen und sozialistische Erziehungsintentionen in einer konstruktiven Synthese verbanden und die sich hinsichtlich ihrer Adressaten und Ziele von bürgerlichen Reformpädagogiken unterschied. 3. Die Entfaltung einer sozialistischen Reformpädagogik war demnach kein zufälliges historisches Phänomen, sondern Ausdruck einer Tendenz zur Demokratisierung der Bildung, die sich spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts angekündigt hatte. Sie ist Teil eines vielschichtigen, spannungsreichen Suchprozesses nach pädagogisch begründeten Alternativen zu einem Schulsystem, das Kinder aus weniger privilegierten sozialen Schichten systematisch benachteiligte und auch in der Weimarer Republik trotz breiten demokratischen Reformstrebens über Minimalreformen nicht hinauskommen konnte. In diesem Prozess spiegelt sich ein weiter Konsens unterschiedlicher weltanschaulicher, politischer und pädagogischer Voraussetzungen und Erwartungen. Es zeigen sich darin aber auch die Erschwernisse und Folgen einer gespaltenen Arbeiterbewegung. Die Projekt-Ergebnisse modifizieren mithin nicht nur das Bild der Reformpädagogik als einer primär vom Bürgertum getragenen „Bewegung“, sie differenzieren zugleich Annahmen über das Verhältnis von Arbeiterbewegung und Reformpädagogik und erweitern sie um Aspekte, die mit dem Bruch 1933 verloren gegangen, später in ihrer Komplexität kaum wieder aufgenommen worden, jedoch in ihrer Erkenntnis- und Anregungskraft noch immer aktuell sind.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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„… er war ein Erzieher, der uns zum Denken erweckte“. Ernst Hadermann – Bildungsbiographie und Bildungsverständnis. In: Ernst Hadermann – Bildungsdenken zwischen Tradition und Neubesinnung Konzepte zur Umgestaltung des Bildungswesens in Nachkriegsdeutschland. Frankfurt a. M. [u.a.] 2008, S. 29-44
Uhlig, Christa
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100 Jahre „Mannheimer Leitsätze“ – zur Bedeutung des ersten sozialdemokratischen Bildungsprogramms. In: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Berlin 2006/III, S. 5-20
Uhlig, Christa
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Reformpädagogik: Kritik und Rezeption in der Arbeiterbewegung. Quellenauswahl aus den Zeitschriften Die Neue Zeit (1883-1918) und Sozialistische Monatshefte (1895/97-1918). Frankfurt a.M. [u.a.] 2006 (Studien zur Bildungsreform, Bd. 46. Hrsg. von Wolfgang Keim)
Uhlig, Christa
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Sammelrezension zu: Auf dem Weg zu einer sozialistischen Erziehung. Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte der sozialdemokratischen „Kinderfreunde“ in der Weimarer Republik. Hrsg. von Roland Gröschel für den Landesverband Nordrhein-Westfalen der SJD – Die Falken. Eine Festschrift für Heinrich Eppe. Essen: Klartext-Verlag 2006/ Sabine Andresen: Sozialistische Kindheitskonzepte. Politische Einflüsse auf die Erziehung. München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag 2006. In: Historische Bildungsforschung. EWR 6 (2007), Nr. 3 (Mai/Juni 2007)
Uhlig, Christa
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Clara Zetkin als Pädagogin. In: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Berlin 2008
Uhlig, Christa
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Reformpädagogik und Schulreform - Diskurse in der sozialistischen Presse der Weimarer Republik. Quellenauswahl aus den Zeitschriften Die Neue Zeit/Die Gesellschaft und Sozialistische Monatshefte (1919-1933). Frankfurt a.M. [u.a.] 2008 (Studien zur Bildungsreform, Bd. 47. Hrsg. von Wolfgang Keim)
Uhlig, Christa
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Clara Zetkin, Heinrich Schulz und Kurt Löwenstein (vorgesehen für: Lexikon Erziehungswissenschaft, Hrsg. von Klaus-Peter Horn, Heidemarie Kemnitz, Winfried Marotzki, Uwe Sandfuchs, erscheint bei Klinkhardt 2009)
Uhlig, Christa