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Die Darstellung der Anderen in Luigi Pulcis Morgante (1461-1483) und ihre Rezeption in der Gegenwart zwischen Historisierung, Aktualisierung und Zensur
Antragstellerin
Professorin Dr. Christine Barbara Ott
Fachliche Zuordnung
Europäische und Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften
Förderung
Förderung seit 2022
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 509481999
Kann man heute überhaupt noch zum Morgante forschen – ein Ritterepos des späten 15. Jahrhunderts, in dem die andersgläubigen Gegner der Christen regelmäßig als ‚Hunde’ oder ‚verfluchte Heiden’ stigmatisiert werden und in dem sich die Verdinglichung der Anderen nicht zuletzt darin äußert, dass deren Köpfe wie Melonen gespalten (Morgante III, 53) und Körper wie Brotlaibe aufgeschnitten werden (Morgante III, 71)? In der Forschung und in der inner- und außeruniversitären Diskussion zeichnen sich drei Möglichkeiten des Umgangs mit literarischen Klassikern ab, die man aus heutiger Sicht der political incorrectness bezichtigen müsste. Erstens kann man solche und ähnliche ‚Störfaktoren’ einfach ignorieren und sich lieber unverfänglichen Aspekten des Werks zuwenden, was schwierig anmuten mag, wenn die Schelte der Andersgläubigen ein geradezu konstitutives Element des Textes ist.Nimmt man die (aus heutiger Sicht) xenophoben Aspekte des Werks zur Kenntnis, so kann man sie zweitens durch eine historisierende Vorgehensweise gleichsam aufheben, indem man deklariert, Beschimpfungen wie „can saracino” (‚sarazenischer Hund’, Morgante XXVII, 17) oder „pagan maladetto” (‚verfluchter Heide’, Morgante XXVII, 18) seien topisch und gar nicht als Beleidigungen gemeint bzw. entsprächen nun einmal der Erwartungshaltung des Publikums oder den narrativen Vorgaben des Epos.Drittens gibt es die Möglichkeit, die Texte aktualisierend zu lesen, d.h. sie aus Perspektive der Gegenwart zu betrachten. Aktualisierungen können als Adaptation und/oder kreative Rezeption aktuelle Sinnpotenziale des Werks sichtbar machen; als Lektüremodus können sie problematisch sein, wenn sie sich in einem bloß wertenden, gegebenenfalls verurteilenden oder zensierenden Gestus erschöpfen.Dies stellt die Literaturwissenschaft, die sich im Zeichen der Autonomie des Kunstwerks seit rund hundertfünfzig Jahren auf eine distanzierte Betrachtung desselben eingestellt hat, vor ganz neue Herausforderungen – in der Forschung wie in der Lehre. Gerade als Dozent*in steht man vor der heiklen Frage, ob man die ‚alten Klassiker‘ aus dem Kanon des Lehrbaren verbannen oder statt dessen gerade einen aktualisierenden Zugang wählen soll, in der Hoffnung, die Studierenden durch den Hinweis auf deren politische Brisanz zur Lektüre vormoderner Texte motivieren zu können. Alle drei hier skizzierten Möglichkeiten sind letztlich unbefriedigend; es müssen Wege jenseits der bloßen Zensur, der reinen Historisierung und der ideologisch voreingenommenen Aktualisierung gefunden werden. Das Projekt erforscht die Darstellung der ‚Anderen‘ in Luigi Pulcis "Morgante" (1461-1483) und ihre Rezeption in der Gegenwart zwischen Historisierung, Aktualisierung und Zensur. Es umfasst ein Dissertationsprojekt, eine komparatistische und eine internationale Tagung, aus der zwei Forschungsbände hervorgehen sollen, sowie zwei Aufsatzprojekte der Antragstellerin.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen