Mendelismus und Genetik in Böhmen und Mähren, 1900-1930
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Hauptziel des Projektes war eine umfassende Darstellung der Geschichte des Mendelismus im Raum von Böhmen und Mähren bzw. der ehem. Habsburger Monarchie im Kontext der Entwicklung der Genetik in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vorzulegen. Dabei sollte insbesondere die Einbindung der speziellen Traditionslinien in den internationalen Kontext nachvollzogen sowie die Ausbildung einer kontinentalen Diskussionstradition beschrieben werden. Neben der Verfügbarmachung von neuen Archivalien zur frühen Geschichte der Vererbungslehre bzw. klassischen Genetik erlaubte es das Projekt, die Anfangsphase des Mendelismus in der Phase der Wiederentdeckung um 1900 neu zu bewerten und auch die damit verbundene Mendelrezeption differenziert zu zeichnen. Dabei zeigte sich die ideologische Vereinnahmung von Mendel durch die verschiedenen Gruppen und die innerwissenschaftliche Rezeption miteinander verwoben. Zugleich wird aber auch dokumentiert, wie in der innerwissenschaftlichen Diskussion nationale Traditionen und persönliche Netzwerke wirksam wurden, und wie hier, im Vorfeld einer neuen Ideologisierung durch den Nationalsozialismus noch in den 1920er Jahren der Ansatz einer auch Böhmen und Mähren mit einzubeziehenden Internationalisierung der genetischen Forschung nachzuzeichnen ist. Die nachfolgenden Vereinnahmungen der Genetik im Rahmen der deutschen Biologie stehen also nicht in einer einfachen Reihung von den ersten Ansätzen einer ggf. auch durch nationale Gegensätze geprägten Ideologisierung, sondern setzen in der Mitte der 1920er Jahre in einer Phase der beginnenden Internationalisierung und, damit verbunden, einer ersten Entideologisierung des ‘Mendelismus’ ein. Das zeigt sich auch schon an der innerdeutschen Diskussion. Viele maßgebende deutschsprachige (biowissenschaftliche) Werke wurden von ausländischen Autoren (u.a. tschechischen) verfasst und dann eben auch positiv aufgenommen. Das nunmehr abgeschlossene Projekt ermöglichte es, auch vor diesem Hintergrund einer eben nicht geradlinigen und eindeutigen Entwicklung der Genetik in Böhmen und Mähren in einem breit angelegten internationalen Vergleich die für die genaue Erforschung der Spezifika stattgefundenen, vererbungstheoretischen Ereignisse relevanten Quellen zu strukturieren. In diesem Zusammenhang wurde die Publikation eines umfangreichen Buches mit den wichtigsten englischen, tschechischen und deutschen Aufsätzen zum/über den frühen „Mendelismus“ veranlasst. Die oben genannten Nachforschungen müssen ebenso parallel zu der konsequenten Rekonstruktion der sog. Wiederentdeckungs-Ereignisse durchgeführt und gesehen werden, denn Böhmen und Mähren nehmen, neben Mendels Wirken im 19. Jahrhundert, auch im „gesamtösterreichischen“ Kontext in der Entwicklung der modernen Vererbungsforschung um/nach 1900 eine Schlüsselstellung ein. Auch über Mendels direktes Wirken hinaus ist/war der Raum Böhmen und Mähren vor allem durch die praktische und theoretische Wirkung in die weitere Entwicklung der Vererbungslehre/Genetik eingebunden. Mendel blieb eben nicht einfach bei der Wiederentdeckung Ende des 19. Jahrhunderts in einem Seitenbereich der Wissenschaftsdiskussion abgedrängten Entdeckungen zur Merkmalsvererbung stehen. Vielmehr setzte er in seinem Umfeld diese „wiederentdeckte“ Vererbungslehre über die Züchtungsforschung bis in Themenfelder von Medizin und Anthropologie sowie in die Forschungspraxis im Bereich der bio-medizinischen Forschung um. Hier vollziehen sich damit über Mendel hinaus im beginnenden 20. Jahrhundert wesentliche Schritte in der Konsolidierung und Weiterentwicklung der Genetik. Es lässt sich dabei nicht nur zeigen, wie hier in besonders prominenter Form die Vererbungslehre im Kontext verschiedener Bereiche bio-medizinischer Forschung etabliert und fortentwickelt wurde. Diese Entwicklung geht vielmehr direkt einher mit einem nach Beginn des 20. Jahrhunderts zusehends ausweitenden direkten Bezug auf Mendel als Forscherpersönlichkeit, die damit auch in ihrer nationalen und kulturellen Biographie vor dem Hintergrund des erstarkten Biologismus bewertet sowie national als auch kulturell vereinnahmt bzw. diskutiert werden kann. Dabei finden sich sowohl Deutungen als deutsch bzw. sudetendeutsch/nationale Figur wie auch – nach Ende des Ersten Weltkrieges – Versuche, über Mendel als eine, in einer internationalen wissenschaftlichen Diskussion eingebundenen Figur, den Bereich Böhmen und Mähren in die internationale Wissenschaftsdiskussion neu einzubringen. In der Eigenwahrnehmung des tschechischen Raumes wurde mit Bezug auf Mendel die Genetik jedoch zusehends auch zu einer Wissenschaft, die über den biographischen Bezug von slawischer Seite vereinnahmt wurde. Darin setzt sie Mendel als eine lokale gezeichnete Gestalt gegen die von anderer Seite getragenen Traditionen einer darwinistisch/haeckelschen Evolutionsbiologie ab. So verzahnten sich in Böhmen und Mähren in den 1930er und 1940er Jahren dann doch wieder die stark ideologischen Wertungen und die innerfachliche Entwicklung des Faches Genetik.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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In the Shadow of Great War: The Acceptation of German “Racial Hygiene“, 1915–25. Terezín Studies and Documents 2007: 371–395
Simunek, M.
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(2008): Die Kooperation der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Deutschen Karls-Universität Prag im Bereich der „Rassenlehre“, 1933-1945. Buchreihe „Thüringen gestern & heute“, Bd. 32, Landeszentrale für politische Bildung, Staatskanzlei Erfurt, 183 S.
Hoßfeld, U. &. M. Simunek
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(2008): Mendelismus in Böhmen und Mähren, 1900-1930. Biospektrum 14 (3): 321–322
Hoßfeld, U.; M. Simunek; O. Breidbach & G. Levit
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(2009): Johann Gregor Mendel. Mendelianismus in Böhmen und Mähren 1900–1930. Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur 4: 183–204
Simunek, M.; T. Mayer, U. Hoßfeld & O. Breidbach
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Family Matters. The Rise of Family Research as a Scientific Method and the Scientification of Eugenics in Vienna after World War I, in: Proceedings of the 3rd International Conference of the European Society for the History of Science, Wien: 2009
Mayer, T.
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From ‘Old’ to ‘New Germany’. German ‘Racial Hygiene’ between Democracy and Dictatorship (1925–1935). Terezín Studies and Documents 2009: 241–275
Simunek, M.
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(2010): Mendelism in Bohemia und Moravia, 1900-1930. Collection of Selected Papers. zgl. Reihe „Wissenschaftskultur um 1900“ - Bd. 6, 276 S., Stuttgart: Franz Steiner Verlag
Simunek, M.; U. Hoßfeld, O. Breidbach & M. Mueller [eds.]
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(2011): Frühe Geschichte der klassischen Genetik revidiert. Biospektrum 6: 712–713
Hoßfeld, U.; Simunek, M.
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(2011): Neues zur Wiederentdeckung der mendelschen Regeln. Biuz 41(3): 159
Hoßfeld, U.; Simunek, M.
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(2011): Selected Bibliography on Science of Heredity/Genetics in Bohemia and Moravia, 1900–1930. Folia Mendeliana 47 (1): 13–52
Simunek, M., U. Hoßfeld & F. Thümmler
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(2011): The Letters of J. G. Mendel. William Bateson, Hugo Iltis, and Erich von Tschermak-Seysenegg with Alois and Ferdinand Schindler, 1902–1932. Studies in the History of Sciences and Humanities, Vol. 28, 131 S., Praha: Verlag von Pavel Mervat
Simunek, M.; U. Hoßfeld, F. Thümmler & J. Sekerak (Hrsg.); J. G. Mendel
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(2011): The Mendelian Dioskuri. Correspondence of Armin with Erich von Tschermak-Seysenegg, 1898– 1951. Studies in the History of Sciences and Humanities, Vol. 27, 259 S., Praha: Verlag von Pavel Mervat
Simunek, M.; U. Hoßfeld, F. Thümmler & O. Breidbach [eds.]
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(2011): Von der Eugenik zur Rassenhygiene. Der tödliche Mythos vom “erbgesunden Volk”. Dresdner Hefte 29(108) 2011: 57–65
Simunek, M., Hoßfeld, U.
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(2011): ‘Rediscovery’ Revised – the cooperation of Erich and Armin von Tschermak-Seysenegg in the context of the ‘rediscovery’ of Mendel’s Laws in 1899–1901. Plant Biology 13 (6): 835–841
Simunek, M.; U. Hoßfeld & V. Wissemann
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Sources for the History of Genetics: Archives & Research: Correspondence between N. I. Vavilov and W. Bateson. History of Biology 2011 3(4): 142
Simunek, M., Hoßfeld, U.