Erzwungenes und selbstgewähltes Exil - Migration und Exil im Luthertum des 16. Jahrhunderts
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt „Erzwungenes und selbstgewähltes Exil – Migration und Exil im Luthertum des 16. Jahrhunderts“ hat gegenüber den bisher überwiegend untersuchten calvinistischen Flüchtlingsgemeinden die Besonderheit lutherischen Exils im Zuge der Konfessionsbildungsprozesse in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts herausgearbeitet. Während sich das lutherische Exil in den Kernterritorien des Alten Reichs überwiegend als Elitenphänomen darstellt – es waren Pfarrer, Superintendenten, Hofprediger und Professoren, die ins Exil gingen – erweist sich das Exil der Gemeinde Augsburger Konfession in Antwerpen als Gruppenphänomen mit Ähnlichkeiten zum calvinistischen Exil. Die Gemeinde orientierte sich an einem eigenen Bekenntnis, baute eigene, kirchenordnende Strukturen auf und verweigerte an ihren Zielorten die Integration, selbst wenn konfessionelle Übereinstimmungen mit Gemeinden am Zielort bestanden. Theologische Legitimation über Exilserfahrungen kamen aber insofern zum Zuge, als die Obrigkeiten/Landesherrschaften Kontakte zu lutherischen Exulanten aus dem Reich suchten und pflegten. Man rekurrierte auf sie als Berater und theologische Autoritäten in Konfliktfällen. Deren Erfahrungen wurden in seelsorgerlichen Schriften aufbereitet, die einerseits die Erinnerung an Vertreibung und Auswanderung pflegten, andererseits vor diesem Hintergrund theologische Optionen und Abgrenzungsmechanismen stärkten. Letzteres, nämlich die Indienstnahme der Exilserfahrung zur theologischen Legitimierung und Stärkung eigener Positionen, ist zugleich ein Charakteristikum des lutherischen Exils im Konfessionsbildungsprozess im damaligen Reichsverband. Mit der Selbstbezeichnung „Exul“ oder „Exul Christi“ entwickelten die Betroffenen einen Ehrentitel und eigneten ihn konsequent an, um allseits sichtbar den Anspruch auf Glaubwürdigkeit und Wahrheit ihrer Lehre als Erben der von Luther ausgehenden Reformation zu signalisieren. Ihr Exil erweist sich oft weniger als geographisches Phänomen – manchmal lagen nur wenige Kilometer zwischen Heimat und Asyl, oft kehrte man an den Ausgangspunkt bzw. in die Heimat zurück – als vielmehr als ideelles und theologisches. Erzwungenes, vor allem selbstgewähltes Exil wurde zu einer Selbstzuschreibung der Rechtgläubigkeit; der Verweis darauf wurde „kultiviert“ und theologisch gezielt eingesetzt, auch wenn es sich nur um einen befristeten Zwischenzustand handelte oder gehandelt hatte. In seiner theologischen Aufladung unterscheidet sich lutherisches Exil deshalb grundlegend von anderen konfessionellen Migrations- und Exilsphänomenen, wobei allerdings die jeweilige politische und gesellschaftliche Einbindung nicht aus den Augen zu verlieren ist. Letzteres tritt an dem Vergleich mit der Antwerpener Gemeinde deutlich hervor.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Die Ausprägung einer regionalen konfessionellen Identität im Fürstentum Anhalt. Einflüsse und Wirkungen. In: Kirche und Regionalbewusstsein in der Frühen Neuzeit. Konfessionell bestimmte Identifikationsprozesse in den Territorien, hg. v. Irene Dingel und Günther Wartenberg†, Leipzig 2009 (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 10), S. 113-127
Irene Dingel
- Kirche und Regionalbewusstsein in der Frühen Neuzeit. Konfessionell bestimmte Identifikationsprozesse in den Territorien, hg. v. Irene Dingel und Günther Wartenberg (†), Leipzig 2009 (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 10)
Irene Dingel, Günther Wartenberg
- Religion und Mobilität. Wechselwirkungen und Interdependenzen zwischen raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa. Tagung Mainz 2009
Carsten Brall
- „Controversia et Confessio“. The culture of controversy leading to confessional consolidation in the late sixteenth century. In: Tidsskrift for Teologi og Kirke 80 (2009), S. 266-278
Irene Dingel
- Erzwungenes und selbstgewähltes Exil im Luthertum. Bartholomäus Gernhards Schrift «De Exiliis» (1575). In: Henning P. Jürgens / Thomas Weller (Hg.), Religion und Mobilität, Wechselwirkungen zwischen raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa, Göttingen 2010, (VIEG Beih. 81) S. 41-58
Vera von der Osten-Sacken
- Diversity and Deviance: Art, Commerce and Religion in 16th century Antwerp. Tagung Dresden 2011
Carsten Brall
- Neue Forschungen zu Matthias Flacius Illyricus. 07.06.2011, Mainz. In: H-Soz-u- Kult, 02.08.2011
Vera von der Osten-Sacken
- Religionssupplikationen der Französisch-Reformierten Gemeinde in Frankfurt am Main. In: Calvin und Calvinismus – Europäische Perspektiven, hg. v. Irene Dingel und Herman J. Selderhuis, Göttingen 2011 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beih. 84), S. 281-296
Irene Dingel
- Die kleine Herde der 7000 – Die aufrechten Bekenner in M. Flacius Illyricus‘ konzeptionellen Beiträgen zur Neuformulierung der Kirchengeschichte aus protestantischer Sicht. In: Grad Labin (Hg.): Matija Vlačič Ilirik III: Proceedings of the 3rd International Conference on Matthias Flacius Illyricus, Labin, 22-24 April 2010, Labin (Kroatien) 2012, S. 281-210
Vera von der Osten-Sacken
- Pruning the Vines, Plowing Up the Vineyard: The Sixteenth-Century Culture of Controversy between Disputation and Polemic. In: The Reformation as Christianization. Essays on Scott Hendrix's Christianization Thesis, edited by Anna Marie Johnson and John A. Maxfield, Tübingen 2012, S. 397-408
Irene Dingel