Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im deutschen und europäischen Schuldvertragsrecht
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, der auch im Privatrecht gilt. Seiner Struktur nach ist der Grundsatz ein formales Prinzip, das die Kollision verschiedener Rechtsgüter, Werte und Interessen auflöst, ohne dass damit bereits eine inhaltliche Aussage verbunden wäre. Eine bloße Übertragung der für das öffentliche Recht gewachsenen Strukturen des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf das Vertragsrecht ist angesichts der grundlegend anderen Ausgangsposition in beiden Rechtsgebieten mit Skepsis zu beurteilen. Die Grundsätze der Geeignetheit und Erforderlichkeit, die im öffentlichen Recht Teil des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne sind, können im Privatrecht - und insbesondere Im Schuldvertragsrecht - keine allgemeine Geltung beanspruchen. Sie sind auf die Beurteilung einer Zweck-Mittel-Relation angelegt und setzen die Existenz mehrerer Handlungsalternativen voraus. Die Handlungsmöglichkelten im Vertragsverhältnis basieren dagegen auf einer privatautonomen Vereinbarung. Diese verpflichtet zwar zur Rücksichtnahme auf die Interessen des anderen Teils, enthält aber keine Vorgaben, stets nur das für den anderen Teil am wenigsten belastende Mittel zu wählen. Privatrechtsimmanent ist somit nur das im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zum Ausdruck kommende Abwägungserfordernis. Hinter diesem steht der das gesamte Privatrecht beherrschende Grundsatz von Treu und Glauben, aus dem eine jeder Rechtsposition immanente Schranke resultiert. Wegen der überragenden Bedeutung des Grundsatzes der Vertragsbindung in jedem Vertragsrechtssystem ist dessen Durchbrechung erst ab der Schwelle der Missbräuchlichkelt zugelassen. Im Schuldvertragsrecht hat der so verstandene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwei wesentliche Anwendungsbereiche: Der erste betrifft diejenigen Fälle, in denen der Gesetzgeber dem Rechtsanwender offen eine Verhältnismäßigkeitsprüfung aufgibt - exemplarisch hierfür steht das Leistungsverweigerungsrecht bei unverhältnismäßigem Aufwand der Leistungserbringung in § 275 Abs. 2 BGB. In diesen Fällen wird eine Entscheidung nicht abstrakt durch Normierung fester Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen getroffen, sondern ist vom Richter auf einer oder auf beiden Ebenen in einer Wertung im Einzelfall erst zu ermitteln. Diese bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmende Abwägung ist strukturell vergleichbar mit anderen Abwägungsvorgängen, wie sie etwa bei der richterlichen Beweiswürdigung oder der behördlichen Ermessenausübung erforderlich werden. Der zweite Anwendungsbereich kann als konstitutive Verhältnismäßigkeitskontrolle bezeichnet werden. Darunter sind Situationen zu verstehen, in denen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Korrektur bestehender gesetzlicher Wertungen herangezogen werden soll. Angesichts der hohen Regelungsdichte im geltenden Schuldvertragsrecht und der zentralen Regelung des § 275 Abs. 2 und 3 BGB bleibt dies indessen eine seltene Ausnahme: Nur bei nicht persönlich zu erbringenden Leistungspflichten kommt ein (konstitutiver) Rückgriff auf das allgemeine Verhältnismäßigkeitsprinzip in Betracht, und zwar dann, wenn das Leistungshindernis sich nicht aus materiellen, sondern aus ideellen Gründen ergibt. Die Durchbrechung einer gesetzlich ausdrücklich angeordneten Rechtsfolge kann jedenfalls nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt werden. Insbesondere die Rechtsfigur der geltungserhaltenden Reduktion nichtiger Rechtsgeschäfte oder unwirksamer Formularklauseln lässt sich also nicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stützen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Schuldvertragsrecht. Eine rechtsvergleichende Untersuchung zur Dogmatik der Begrenzung von Rechten und Pflichten im deutschen und europäischen Privatrecht, Jus Privatum, ca. 550 S., Mohr Siebeck (zugl. Habilitationsschrift, Köln 2008/09)
Michael Stürner