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Rhetorische dissimulatio artis im Neuen Testament?
Antragsteller
Professor Dr. Thomas Schmeller
Fachliche Zuordnung
Katholische Theologie
Förderung
Förderung von 2020 bis 2023
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 437410330
Bevor Augustinus in seinem Werk De doctrina Christiana die pagane Rhetorik rehabilitierte und für die christliche Verkündigung fruchtbar machte, war diese Rhetorik für die Kirchenväter ein Problem: Sie war als ein wesentlicher Teil der paganen Bildungstradition anziehend und abstoßend zugleich. Im Neuen Testament finden wir nur die eine Seite: eine sehr ablehnende Haltung. Vor allem die Paulusbriefe sind hier relevant. Paulus scheint von Rhetorik nichts zu verstehen und nichts zu halten. Zum einen nennt er sich einen “Amateur in der Rede” (2Kor 11,6). Zum anderen beurteilt er die Rhetorik insgesamt negativ, weil sie für ihn zur Weisheit der Welt gehört, der gegenüber er sich für die Weisheit Gottes entscheidet (1Kor 1-4).Obwohl Paulus also die Rhetorik entschieden ablehnt, sind doch viele heutige Ausleger davon überzeugt, dass er sich der Rhetorik bedient hat. In einer großen Zahl von Veröffentlichungen werden in seinen Briefen rhetorische Mittel analysiert. Schon die Stellungnahmen der Kirchenväter zur paulinischen Rhetorik sind durch auffällige Ambivalenz gekennzeichnet. Die Reaktionen auf die paulinische Selbstaussage in 2Kor 11,6 (“Amateur in der Rede”) waren und sind damals wie heute gegensätzlich. Verbreitet Paulus das Evangelium erfolgreich, obwohl er nicht gut reden kann, oder hat er mit seiner Verkündigung Erfolg, weil er trotz aller Selbstkritik gut reden kann?Diese Beobachtungen machen auf eine Verständnismöglichkeit aufmerksam, die in der neueren Forschung nicht immer ernst genug genommen wird: Aussagen wie 2Kor 11,6 könnten Bescheidenheitstopoi und damit Teil einer umfassenderen rhetorischen Strategie sein, der sogenannten dissimulatio artis (wörtlich übersetzt: “Verheimlichung der Kunst”). Es handelt sich hier um ein Phänomen, das in der antiken Kultur auch außerhalb der Rhetorik in vielen Bereichen begegnet: Ein Kunstwerk sollte die Kunstfertigkeit, die darauf verwendet worden war, möglichst nicht zeigen. Liest man Paulus in diesem Kontext, wäre seine Selbstdistanzierung von der Rhetorik in Wirklichkeit ein Bekenntnis zu ihr.Die Antwort auf die Frage, ob hier tatsächlich eine dissimulatio artis vorliegt, setzt eine genauere Beschäftigung mit diesem rhetorischen Phänomen voraus, das in der klassischen Philologie wenig erforscht ist und in exegetischen Veröffentlichungen bestenfalls beiläufig erwähnt wird. In der geplanten Untersuchung sollen sein Vorkommen und seine Funktionen in der paganen Literatur der Antike geklärt werden. Vor allem aber soll die Frage beantwortet werden, ob wir bei Paulus und in anderen neutestamentlichen Texten rhetorische Mittel finden, die der dissimulatio artis ähneln, und was das für die oben skizzierte frühchristliche Ambivalenz gegenüber der Rhetorik bedeutet: Bietet vielleicht nicht erst Augustinus, sondern schon das Neue Testament selbst eine christlich adaptierte, also in das christliche Selbstverständnis integrierte Rhetorik?
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen