Detailseite
Multiple und transterritoriale Loyalitätsbindungen als Strukturelement der diplomatischen Praxis um 1700: Johann Christoph von Urbich (1653-1715) im Beziehungsgeflecht zwischen dem Heiligen Römischen Reich, Dänemark und Russland
Antragstellerin
Professorin Dr. Anuschka Tischer
Fachliche Zuordnung
Frühneuzeitliche Geschichte
Förderung
Förderung von 2018 bis 2024
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 416436858
Diese Untersuchung zur Diplomatiepraxis der Frühen Neuzeit legt den Fokus auf das Agieren von Diplomaten in einem vielschichtigen, nicht vertragsgebundenen Beziehungsgeflecht ihrer Prinzipale, das eine Ergänzung bzw. Konkurrenz zu vertraglich geregelten Bündnissen bildete. Dies führte zu simultanen multiplen Loyalitätsbindungen der Diplomaten: Anhand von konkreten Beispielen kann nachgewiesen werden, dass transterritoriales Agieren in simultanen Dienstverhältnissen an mehreren Höfen innerhalb eines solchen Beziehungsgeflechts ein Faktum in der Diplomatiepraxis um 1700 darstellt. Duale Loyalitätsbindungen sind in der aktuellen Forschung bereits mehrfach nachgewiesen worden. Es lässt sich aber zeigen, dass sogar multiple Loyalitätsbindungen existierten. Die Erforschung des potentiellen Spielraums eines Diplomaten in einer solchen Konstellation kristallisiert zum einen Rollenverständnis und Status der sich in dieser Zeit etablierenden Funktionselite des Berufsdiplomaten klarer heraus, zum anderen wird der Blick auf die Wertigkeit von informalen Verflechtungen geschärft. Grundlage für die Darstellung von solchem transterritorialen Agieren eines Diplomaten ist in dieser Studie der umfangreiche, der Forschung bisher unbekannte politische Nachlass des Berufsdiplomaten von Urbich. Er fungierte in Wien von 1690-1712 als dänischer Gesandter (von kurzen Unterbrechungen abgesehen), erfüllte als Reichshofrat Missionen und stand, wie die eng getaktete Korrespondenz belegt, ca. 20 Jahre im Dienst des Wolfenbütteler Herzogs Anton Ulrich. Seine Tätigkeit als russischer Gesandter (1707-1712) lässt sich, im Gegensatz zur bisherigen Annahme, aufgrund des Quellenmaterials als Erweiterung seiner multiplen Loyalitätsbindungen qualifizieren. Die sich in diesem Rahmen aufdrängenden Fragen nach dem spezifischen Loyalitätsverständnis eines Diplomaten sowie die nach seiner potentiellen Eigenmächtigkeit fokussieren sich bei der Analyse der Umstände seiner Entlassung aus dem russischen Dienst und dem damit einhergehenden Verlust ‚seines‘ Beziehungsgeflechts. Die Hypothese ist, dass ein über Jahre funktionierendes Modell an einer systembedingten Bruchstelle zerbrach. Ein solches Beziehungsgeflecht von Prinzipalen besteht, solange ein Ausgleich der Interessen durchgeführt werden kann. Sobald politische Spannungen zwischen den Dienstherren als nicht lösbar qualifiziert werden, gerät der Diplomat in Gefahr, aufgrund seiner multiplen Loyalitätsbindungen als Verräter zu gelten. Die zuvor positiv besetzten Netzwerke werden in ihrer Bewertung umgepolt zu feindlichen Versuchen der Einflussnahme.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen