Gerüchte und Gewalt
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die ursprüngliche Frage nach dem Zusammenhang zwischen Gerüchten und Gewalt wurde im Laufe der Projektarbeit ausgeweitet. Der alleinige Fokus auf Gerüchte hätte zu große methodische Schwierigkeiten und auch eine letztlich zwecklose Einschränkung des Analysefeldes bedeutet. Stattdessen ging es um eine Kulturgeschichte der Gewalt in zweierlei Hinsicht. Im Teilprojekt drei ging es um physische Gewalt, die sich vor einem Hintergrund von Gerüchten und anderen Erzählungen über die unterschiedlichen Gewaltakteure abspielte. In den ersten beiden Projekten hingegen bildet die Gewalt, namentlich die Repressionen unter Stalin und das Töten und Sterben im Zweiten Weltkrieg nur den Bezugsrahmen, nicht den eigentlichen Gegenstand. Wer jedoch wissen will, wie die Menschen an Stalins Hof miteinander sprachen, oder wie russische Bauern religiösen Sinn herzustellen suchten, wird immer die zumindest latente existentielle Bedrohung der Akteure bedenken müssen. Besonders fruchtbar war die Ausweitung des Untersuchungs-Fokus, so dass nun nicht mehr nur das Sprechen, sondern auch das Handeln als Quelle für den kulturellen Horizont der Akteure erschlossen wurde. Mit der Frage nach dem kommunikativen Charakter von Gewalttaten hatte der Antrag schon in diese Richtung gezeigt. Nun wurden jedoch auch weitere Handlungen, etwa religiöse Prozessionen, in diesen Analyserahmen einbezogen. Trotz allem beschäftigte sich das Projekt auch mit Gerüchten im engeren Sinn, konnte dabei aber insbesondere eine Frage nicht klären, nämlich die nach der Steuerbarkeit von Gerüchteprozessen und folglich nach ihrem Nutzen als Herrschaftsinstrument. Einerseits weisen die Ergebnisse aus dem Teilprojekt 3 darauf hin, dass die weit verbreiteten Vorstellungen, Ritualmordgerüchte u.a. seien im Vorfeld von Pogromen von interessierten Akteuren nach Belieben „gestreut" wurden, sich praktisch nie belegen lassen. Im Teilprojekt 1 wurden hingegen gewichtige Hinweise dafür gefunden, dass Stalin und seine Gefolgsleute nicht nur davon überzeugt waren, dass sich Gerüchte wie Waffen handhaben ließen, sondern dass sie damit auch tatsächlich erfolgreich waren. Offenkundig bedarf es hier weiterer Differenzierung. Die methodisch diffizile Frage, unter welchen Bedingungen Gerüchte zum relativ zuverlässigen Instrument werden können, muss vorerst offen bleiben. Schließlich ist festzuhalten, dass die Projekte auf ihren jeweiligen Feldern dank des neuen methodischen Ansatzes etablierte historiographische Narrative in Frage stellen konnten. Wo war bisher deutlich zu lesen, dass die sogenannten „Schwarzhunderter"-Verbände, die in der Forschung für die Pogrome von 1905-6 verantwortlich gemacht werden, den Quellen nach zu urteilen, erst im Entstehen begriffen waren, als die Pogrome ihren Zenit erreichten, und dass umgekehrt die große Zeit der „Schwarzhunderter"-Gruppen frei von Pogromen war? Wo wurde bisher eine plausible Deutung für das rätselhafte, erratische Agieren Stalins in Gesprächen angeboten? Wer hat bisher von den Massenwallfahrten in den späten Stalin-Jahren und der frühen Chruščev-Zeit gehört? Das Projekt, das ursprünglich als Geschichte der Gerüchte und der Gewalt konzipiert war, hat gezeigt, welchen Beitrag die Aufmerksamkeit für diese Phänomene zu einer allgemeinen Geschichte von Herrschaft und Gesellschaft in Russland leisten kann.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Lalaevs Haus brennt. Das Februarpogrom von 1905 in Baku - paralysierter Staat und Massengewalt im Russischen Reich, in: Journal of Modern European History 10 (2012) H. 1, S. 117-138
Wiese, Stefan
- Mit Ikonen und Gesang oder: Ein Bischof auf der Flucht vor seinem Kirchenvolk. Massenwallfahrten in Russland unter Stalin und Chruschtschow, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2012, S. 315-333
Huhn, Ulrike
- The Pogrom Paradigm of 1905 - A Case Study on the Role of "Black Hundreds" and Jewish Self-Defense during the Pogroms of 1905 in Tsarist Russia, in: Quest. Issues in Contemporary Jewish History 3 (2012), online-Journal
Wiese, Stefan