Kirchenbindung und Liturgiefeier. Die Rolle kleiner Liturgiken des 19. Jahrhunderts
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Bei den sog. Kleinen Liturgiken des 19. Jahrhunderts, die in einem Buchtitel auch als „Populär-Liturgik“ bezeichnet werden, handelt es sich um Bücher, die entweder für die private Lektüre von Gläubigen („Laien“) oder für die Katechese durch Priester verfasst worden sind. Bislang konnten ca. 60 verschiedene Titel unterschiedlicher Autoren, fast ausschließlich Priester, aus dem deutschen Sprachgebiet gefunden werden. Die Bücher erklären Liturgien, greifen dafür auf die römischen Liturgiebücher oder auch auf im 19. Jahrhundert noch in Gebrauch befindliche diözesane Liturgica zurück. Sie enthalten Informationen zur allgemeinen Liturgik (Sprache, Raum, Gewänder, Weihrauch, Bilder usw.), zur Messfeier und zu weiteren Liturgien. Es dominieren neben der Messe andere Sakramentenliturgien und Sakramentalien. Die Bücher entsprechen einer Situation kirchlichen Lebens, in der die Feier der Liturgie an Selbstverständlichkeit verliert, Glaubenspraxis als erklärungsbedürftig gesehen wird und Kirche und Glauben innerhalb der Gesellschaft nicht mehr unhinterfragt sind. Kritik der Autoren an der Liturgie, wie sie der katholischen Aufklärung des 18./19. Jahrhunderts vertraut war, begegnet man in diesen Quellen nicht. Liturgie wird als ein kirchenamtlich geregelter und in seinem rituellen Bestand nicht veränderbarer Kult verstanden. Die lateinische Sprache wird mit unterschiedlichen Argumenten als unabdingbar betrachtet. Gläubigen, die des Lateinischen nicht kundig sind, wird durch Übersetzungen von Teilen liturgischer Texte oder auch vollständigen Texten und durch deren Erklärung ein Zugang zum Verständnis der Liturgie eröffnet, das, so die implizite Aussage der Quellen, anders nicht gegeben ist. Ein besonderes Interesse gilt den Zeichenhandlungen der Liturgie, die mit Blick auf ihre kulturgeschichtliche Herkunft, biblischen Hintergründe und traditionelle Deutungen erläutert werden. Die Liturgiken fallen mit Blick auf das Verhältnis von Priester und Gläubigen ambivalent aus. Auf der einen Seite sollen die Bücher die Feier der Liturgie intensivieren und neue Zugänge zur Liturgie eröffnen. Zum Teil werden sehr weitgehende Einblicke in Liturgien geboten, die klar als Klerikerliturgien verstanden werden und sprachlich weitgehend entzogen sind. Auf der anderen Seite sind diese Liturgien ganz auf den Priester fixiert und kennen die Gläubigen allein als „Anwesende“, die mit nicht näher bestimmten religiösen Praxen das klerikale Geschehen begleiten. Priester und Gläubige handeln in der Liturgie unabhängig voneinander, was noch durch die spätere Liturgische Bewegung des 20. Jahrhunderts beklagt wird. Hier in den kleinen Liturgiken ist dieses Verhältnis festgeschrieben. Es kommt hinzu, dass in diesen Erklärungen für die Hand von Nichtordinierten die Gestalt des ordinierten Priesters überhöht und sakralisiert wird. Der Priester wird als Heilsmittler profiliert, wird zur moralischen Identifikationsgestalt stilisiert und zur Personifikation von Kirche erklärt. Kirche wird dadurch klerikalisiert und ist ohne die priesterliche Zentralgestalt nicht denkbar. Die Gläubigen nehmen an der durch den Priester zu ihrem Heil gefeierten Liturgie teil, ohne selbst handelnde Subjekte der gottesdienstlichen Handlung sein zu können. Diese Liturgiken sind auch deshalb eine interessante Quellensorte, weil sie einerseits eine Öffnung der Liturgie durch weitreichende Verstehens- und Zugangsmöglichkeiten versprechen, die sie andererseits durch die Fixierung auf die Gestalt des Priesters zumindest einengen, wenn nicht sogar zurücknehmen. Ordnet man sie in die Liturgiegeschichte des 19. Jahrhunderts ein, erkennt man die Distanz zur Aufklärung, von deren Programmatik sich die Autoren deutlich abgrenzen, sieht aber auch eine Nähe dort, wo man eine Verbesserung liturgischer Praxis durch Erklärung erwartet. Zugleich erkennt man, etwa beim Interesse an Zeichen- und Sinnenhaftigkeit der Liturgie, Themen, die später auch in der Liturgischen Bewegung eine Rolle spielen werden. Es handelt sich auf den ersten Blick um wenig aufregende Quellentexte, die aber für die Mitte und das spätere 19. Jahrhundert aufschlussreiche Texte für das Verständnis des Gottesdienstes sind.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Das lange 19. Jahrhundert und das Rituale. Zur Frage der Interpretation liturgischer Bücher, in: Benedikt Kranemann – Hélène Bricout – Davide Pesenti (Hg.), Die Dynamik der Liturgie im Spiegel ihrer Bücher. Festschrift für Martin Klöckener. Münster 2020 (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 110) 273–289
Benedikt Kranemann
- Kleider machen Leute. Liturgische Kleidung, Macht und Gemeindeliturgie, in: Benedikt Kranemann – Gregor Maria Hoff – Julia Knop (Hg.), Amt – Macht – Liturgie. Theologische Zwischenrufe für eine Kirche auf dem Synodalen Weg. Freiburg/Br. [u.a.] 2020 (QD 308), 41–56
Benedikt Kranemann
- „Mittler zwischen Gott und den Menschen“. Priester und Priesteramt in kleinen Liturgiken des 19. Jahrhunderts, in: Neue Aspekte einer Geschichte des kirchlichen Lebens. Zum 10. Todestag von Erwin Gatz. Hg. von Clemens Brodkorb – Dominik Burkard. Regensburg 2021, 227–253
Benedikt Kranemann
- Benediktionen in kleinen Liturgiken des 19. Jahrhundert, in: LJ 72. 2022
Benedikt Kranemann
- Das Ringen um die Sprache lebendiger Liturgie – Debatten in der jüngeren und jüngsten katholischen Liturgiegeschichte, in Berliner Theologische Zeitschrift 39. 2022
Benedikt Kranemann
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/bthz-2022-0011) - Geschichte, Stand und Aufgaben der Liturgiewissenschaft, in: Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft 1. Hg. von Martin Klöckener – Reinhard Meßner. Regensburg 2022
Benedikt Kranemann
- „Freiheit und Gebundenheit in der Liturgie“. Die „Liturgik“ des Tübinger Theologen Joseph Gehringer, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 63. 2022
Benedikt Kranemann