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Evidenzpraktiken an der Schnittlinie von Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften und Öffentlichkeit: Die Debatte um das Anthropozän

Fachliche Zuordnung Wissenschaftsgeschichte
Förderung Förderung von 2017 bis 2020
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 282210851
 
Erstellungsjahr 2021

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Ausgangspunkt des Forschungsprojektes war eine wissenschaftstheoretische Betrachtung der Anthropozändebatte im Hinblick auf die Frage nach Herstellungs- und Anwendungszusammenhängen von Evidenz, die deutlich über die bisherigen metaperspektivischen Untersuchungen der Debatte um das Anthropozän hinausging. Im Zentrum der Analyse standen die Fragen danach, wie anthropozäne Evidenz von den unterschiedlichen Disziplinen hergestellt wird, wie und mit welcher zugrundeliegenden Intention sie eingesetzt wird und inwiefern Reaktionen auf präsentierte Evidenz in einer Art Feedbackloop auf disziplinspezifische Praktiken der Evidenzgenerierung rückwirken. Das Projekt hat über die differenzierte, systematische Analyse der Anthropozändebatte das analytische und heuristische Potential des Konzepts aufgezeigt und seinerseits einen Beitrag zur Beschreibung der Funktionsweise des Wissenschaftssystems unter interdisziplinären Vorzeichen geliefert. Daraus ergab sich auch die Gliederung der Dissertationsschrift der Bearbeiterin: Im ersten Kapitel wurden einerseits die konzeptionelle Entwicklungslinie des Anthropozäns vom Ende des 18. Jahrhunderts bis heute und andererseits die Rolle der Erdsystemwissenschaften als eine Art Metawissenschaft für die Entwicklung der Anthropozändebatte herausgearbeitet. Das zweite Kapitel thematisierte die Formierung der Geologie, insbesondere der Stratigraphie, als wissenschaftliche Disziplin und legte etablierte Kriterien der stratigraphischen Zeiteinteilungspraxis offen. Die Analyse konkreter Aushandlungsprozesse im intra-, inter- und transdisziplinären Raum, die im Zentrum des dritten Kapitels stand, hat Veränderungen etablierter disziplinspezifischer Evidenzpraktiken ergeben. Das vierte Kapitel hat auf das Potential des Anthropozänkonzepts im öffentlichen Raum verwiesen und ein mögliches Forschungsprogramm in Ergänzung zu der im Rahmen des Projekts durchgeführten Untersuchung skizziert. Die Studie hat ergeben, dass Grenzziehungen zwischen etablierten Kulturen der Wissensproduktion verwischen. Während sich in den Geowissenschaften, insbesondere in der Stratigraphie, ein methodischer Wandel abzeichnet, sehen sich die Geistes- und Sozialwissenschaften primär dazu aufgefordert, tiefenzeitliche Inhalte des Anthropozäns mithilfe etablierter Evidenzpraktiken in den eigenen Gegenstandsbereich zu integrieren. Dass sich das Anthropozän zu einem Konzept mit multiplen Bedeutungen entwickelt hat, die nicht in Konkurrenz zueinanderstehen, sondern einander ergänzen, konnte die Untersuchung zeigen. Auf Basis der Ergebnisse des Projekts lässt sich die These aufstellen, dass mit den Aushandlungsprozessen um das Anthropozän die Weichen für die Entwicklung einer neuen Inter-Disziplin gestellt sind, welche die klassischen Dualismen des modernen Denkens überwindet und jenseits disziplinärer Grenzziehungen operiert. Die Provokationen des Anthropozänkonzepts tragen dabei über die dadurch freigesetzten Dynamiken nicht selten dazu bei, das zur selben Zeit vorhandene Potential des Konzepts zur Entfaltung zu bringen. Die Arbeit kann insgesamt als ein Beitrag zu der wichtigen gesamtgesellschaftlichen Debatte verstanden werden, die um die Frage kreist, wie sich anthropozäne Handlungsmacht in Zukunft integrativ gestalten lässt. Zudem leistet sie einen maßgeblichen Beitrag zu der hochaktuellen Diskussion, welche Evidenzen als vertrauenswürdiges, legitimes Wissen gelten können und wie das Wissenschaftssystem auf die wachsende Forderung nach Partizipation und Transparenz von Wissensproduktionsprozessen reagieren kann.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Technosphere, Technocene, and the History of Technology, in: ICON: Journal of the International Committee for the History of Technology 23 (2017), S. 1-17
    Fabienne Will, Helmuth Trischler
  • Negotiating and Communicating Evidence: Lessons from the Anthropocene Debate, History of Knowledge, 26. Januar 2018
    Fabienne Will
  • Die Provokation des Anthropozäns, in: Martina Heßler und Heike Weber (Hrsg.): Provokationen der Technikgeschichte. Zum Reflexionszwang historischer Forschung, Paderborn: Schöningh, 2019, S. 69-106
    Fabienne Will, Helmuth Trischler
    (Siehe online unter https://doi.org/10.30965/9783657792337_004)
  • Ein- und Ausschließen. Evidenzpraktiken in der Anthropozändebatte und der Citizen Science, in: Karin Zachmann und Sarah Ehlers (Hrsg.): Wissen und Begründen. Evidenz als umkämpfte Ressource in der Wissensgesellschaft, Baden-Baden: Nomos, 2019, S. 31-58
    Fabienne Will, Andreas Wenniger, Sascha Dickel, Helmuth Trischler und Sabine Maasen
    (Siehe online unter https://doi.org/10.5771/9783748903383-31)
  • Anthropozän, in: Martina Heßler und Kevin Liggieri (Hrsg.): Technikanthropologie, Baden-Baden: Nomos, 2020, S. 236-243
    Fabienne Will, Helmuth Trischler
    (Siehe online unter https://doi.org/10.5771/9783845287959-236)
  • Technosphäre und Technozän – anthropozäne Perspektiven auf Technik, in: Susanne Hartard und Axel Schaffer (Hrsg.): Mensch und Technik. Perspektiven einer zukunftsfähigen Gesellschaft, Marburg: Metropolis, 2020, S. 275-303
    Fabienne Will
  • Evidenz für das Anthropozän. Wissensbildung und Aushandlungsprozesse an der Schnittstelle von Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021. ISBN 978-3-525-31731-0
    Fabienne Will
    (Siehe online unter https://doi.org/10.13109/9783666317316)
 
 

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