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Überleben in widrigen Umwelten: Eine politische Soziologie von Nichtregierungsorganisationen in autokratischen Regimen am Beispiel Russlands

Antragstellerin Dr. Evelyn Moser
Fachliche Zuordnung Soziologische Theorie
Empirische Sozialforschung
Förderung Förderung von 2016 bis 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 323248194
 
Erstellungsjahr 2021

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Im November 2012 trat in Russland das Gesetz „Zur Regulierung der Tätigkeiten nichtkommerzieller Organisationen, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen“ – kurz: Agentengesetz – in Kraft (121-FZ, 2012). Es fordert von nicht-kommerziellen Organisationen (NGOs), die politische Aktivitäten verfolgen und finanzielle Mittel aus ausländischen Quellen beziehen, sich in ein vom Justizministerium geführtes Register einzutragen. Die massiven Legitimitätseffekte der (potentiellen) Stigmatisierung als ausländischer Agent in Kombination mit der selektiven, kaum antizipierbaren Umsetzung des Gesetzes stellen eine unmittelbare Existenzbedrohung für russische NGOs dar. Diese Lage verschärfte sich mit den Ausweitungen des Agentengesetzes zunächst auf Medienorganisationen, Blogger*innen und Journalist*innen und schließlich (seit 2020) auf jedes Individuum unabhängig von der beruflichen oder politischen Tätigkeit. Das Forschungsprojekt verfolgte vor diesem Hintergrund ein zweifaches Erkenntnisinteresse: Untersucht wurden erstens die Anpassungsstrategien und Reaktions- und Deutungsmuster russischer NGOs und Aktivist*innen angesichts dieser neuen Form staatlicher Repression. Zweitens stellte das Projekt die Frage nach den Rückschlüssen, die sich aus der Repressionsdynamik und den Antworten zivilgesellschaftlicher Akteure auf die Form autokratischer Herrschaft in Russland unter Putin ziehen lassen. Aus der Analyse des umfangreichen empirischen Datenmaterials, das im Projektkontext erhoben wurde (vor allem 65 semi-strukturierte Interviews mit Einzelaktivist*innen und Vertreter*innen von russischen NGOs und deutschen politischen Stiftungen), sind drei Beobachtungen hervorzuheben: Erstens wird die Agentengesetzgebung einhellig nicht nur als Verschärfung der staatlichen Einschränkung zivilgesellschaftlicher Akteure wahrgenommen, sondern als grundsätzlich neue Form von Repression, die erstmals politische Aktivität direkt benennt und sanktioniert. Die Stigmatisierung als ausländischer Agent erschwert den betroffenen Organisationen und Aktivist*innen nicht nur den Ressourcenzugang, sondern entzieht ihnen in umfassender Weise ihre Existenzberechtigung. Zweitens lässt sich eine Reihe von Strategieelementen benennen, die die Organisationen oftmals vorauseilend nutzen, um sich der Kategorisierung als „ausländischer Agent“ zu entziehen: Formale Auflösung, Emigration, Entpolitisierung und Kommerzialisierung. Die Verfügbarkeit dieser Strategien und damit die Resilienz der Organisationen hängt nicht nur maßgeblich von organisationalen Parametern ab (u.a. Art der Tätigkeiten und Ziele, räumliche Bindung, Zugang zur Öffentlichkeit), sondern auch von der Fähigkeit der Organisationen, die Spannung zwischen lokaler Einbettung und universalistischen Konzepten kontextangemessen zu moderieren. Drittens stehen die Agentengesetze beispielhaft für eine moderne Form autokratischer Repression, die sich mit funktionaler Differenzierung arrangiert, indem sie gesellschaftliche Teilbereiche in oberflächlicher Weise intakt lässt. Durch die Exklusion von NGOs unterbindet sie jedoch funktionssysteminterne Öffentlichkeiten und Reflexionsprozesse und beraubt die russische Gesellschaft so eines wichtigen Instruments der Selbstbeobachtung und -modernisierung.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

 
 

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