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Eine Wiederaneignung verfassunggebender Gewalt? Neu entstehende Gegen-Narrative im EU-Konstitutionalismus.

Fachliche Zuordnung Politikwissenschaft
Förderung Förderung von 2016 bis 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 319145390
 
Erstellungsjahr 2021

Zusammenfassung der Projektergebnisse

In diesem Projekt wurden die Bedeutung und der Stellenwert verfassunggebender Gewalt für die demokratische Legitimität der europäischen Integration untersucht. Zu diesem Zweck haben wir öffentliche Narrative identifiziert, die die Standardinterpretation der Europäischen Union als ein im intergouvernementalen Modus zu entwickelndes Gemeinwesen herausfordern. Das gemeinsame Motiv dieser Erzählungen besteht darin, die Rolle der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ zurückzuweisen. Alle Narrative behaupten, den Bürger*innen werde das Recht, die EU zu gestalten, unrechtmäßig vorenthalten. In dramatischen Plots wird erklärt, warum es an der Zeit ist, sich die verfassunggebende Gewalt wieder anzueignen. Unter Rückgriff auf konkurrierende politische Theorien der EU-Demokratie haben wir die rekonstruierten Narrative zu vier Modellen verfassunggebender Gewalt in der EU entwickelt und somit eine neue Typologie vorgelegt: regionaler Kosmopolitismus, Demoi-kratie, pouvoir constituant mixte, destituierende Macht. Das regional-kosmopolitische Modell behauptet, die verfassunggebende Gewalt liege bei der politischen Gemeinschaft der EU-Bürger*innen. Das demoi-kratische Modell betrachtet die Gesamtheit der Völker der Mitgliedstaaten als verfassunggebende Gewalt. Das Modell des pouvoir constituant mixte geht davon aus, dass sich die verfassunggebende Gewalt der EU aus den europäischen Bürger*innen und den europäischen Völkern zusammensetzt. Das Modell der destituierenden Macht schreibt einer nichtumrissenen Multitude das Recht zu, konstitutionelle Strukturen in der EU zu dekonstruieren. Alle Modelle wurden aus demokratietheoretischer Sicht bewertet und auf ihre Stärken und Schwächen hin geprüft. Auf dieser Grundlage und unter Rückgriff auf die Methode der rationalen Rekonstruktion haben wir eine neue Theorie der verfassunggebenden Gewalt in der EU entwickelt. Diese Theorie umfasst erstens einen neuen konzeptionellen Rahmen, in dessen Mittelpunkt der Begriff der Aufstufung verfassunggebender Gewalt steht; zweitens eine systematische Begründung der Idee, dass sich die EU auf ein duales konstituierendes Subjekt stützt, das sich sowohl in der europäischen als auch in der nationalen Säule direkt aus Bürger*innen zusammensetzt („citizens all the way down“); drittens ein Modell außergewöhnlicher Parteiorganisationen („extraordinary partisanship“), das eine Lösung für das Problem politischer Handlungsfähigkeit anbietet; viertens einen institutionellen Vorschlag für eine permanente verfassunggebende Versammlung als Teil des politischen Systems der EU. Schließlich hat sich das Projekt mit demokratischen Problemen der Desintegration sowie der Re-Allokation verfassunggebender Gewalt durch Souveränitätsreferenden befasst, im Kontext von Brexit sowie der katalanischen und schottischen Unabhängigkeitsbewegungen. Wir haben die potenziellen demokratischen Kosten und Vorteile verschiedener Typen von EU-Desintegration (Rückzug, Rücknahme, Austritt, Ausschluss, Auflösung) identifiziert und Kriterien bestimmt, die es erlauben, zwischen pro tanto legitimen und illegitimen Beanspruchungen verfassunggebender Gewalt in föderativen Gemeinwesen zu unterscheiden.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

 
 

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