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Die institutionalisierten Geisteswissenschaften im China der 1950er Jahre

Fachliche Zuordnung Sozial- und Kulturanthropologie, Außereuropäische Kulturen, Judaistik und Religionswissenschaft
Förderung Förderung von 2006 bis 2011
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 30245125
 
Erstellungsjahr 2010

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Zusammenfassend deuten sich bereits folgende Ergebnisse an: 1) zum Ritus: Elemente einer rituellen Kommunikation, die dem von Michaels vorgestellten religiösen rite de passage entspricht, konnten auch im akademischen Schreiben für den ideologischen rite de passage nachgewiesen werden. Die Anti-Hu-Shi-Kampagne von 1954/55 ist die erste breit angelegte Kampagne in den Geisteswissenschaften, die auf die Einführung des Marxismus-Leninismus als Methode zielte. Die in der Kampagne eingeübten rituellen Elemente, die den Übergang zum Marxismus affirmieren sollten, werden zum Standard wissenschaftlichen Schreibens. In der Literaturgeschichte sind es die von Strauss genannten „policy chapters“, die die gegenwärtige Leitlinie erklären und gleichzeitig die Loyalität der Autoren dazu bezeugen. Sie werden der eigentlichen fachlichen Abhandlung vorgeschaltet. Außerdem finden sich diese Elemente sogar in den Beiträgen der relativ freien Debatte um das idealistische Erbe, so dass von einer erfolgreichen Implementierung während der Anti-Hu-Kampagne in die Geisteswissenschaften gesprochen werden kann. 2) zum Inhalt: Trotz einer allgemein wahrgenommenen Top-down-Politik gibt es einige Beispiele für eine inhaltliche Wechselwirkung zwischen Fachdiskurs und der Parteilinie. Dies zeigt der durch eine sowjetfreundliche Politik initiierte Umgang mit Stalins Werken. Diese werden im Fachdiskurs als eine autoritative Quelle so weit kanonisiert, dass sie bei einer Abwendung von der Sowjetunion und im Kanonisierungsprozess von Maos Werken zwar weniger zitiert werden, jedoch sie weiterhin Teil des marxistischen Kanons, der durch den Fachdiskurs festgelegt wurde und nicht mehr öffentlich eliminiert werden kann. Ein weiteres Beispiel geht aus dem Interview mit dem Journalisten Yuan Ying hervor, der lediglich mit ungenauen offiziellen Weisungen ausgerüstet nach eigenem Ermessen den Leitartikel schrieb. Nach offizieller Sanktionierung initiierte dieser die Anti-Yu-Pingbo-Kampagne. Inhaltlich ist die Geschichtswissenschaft führend. Zum einen gibt sie für die Literatur- und Philosophiegeschichte die notwendigen Vorlagen in der Periodisierung vor; zum anderen wirkt sie bei der Einbeziehung von Maos Schriften in den marxistischen Kanon entscheidend mit. Die Literaturwissenschaft ist mit der Hinwendung zur Volksliteratur erfolgreicher Vorreiter in der chinesischen Geisteswissenschaft im Hinblick auf den Indigenisierungsprozess, der mit dem sich abzeichnenden Scheitern der Weltrevolution in den kommunistischen Ländern einsetzte. Die einzigartig freie Debatte in der Philosophie um den Umgang mit dem idealistischen Erbe, die ebenfalls als Teil dieses Prozesses anzusehen ist, scheitert. In der Konsequenz bleibt, anders als innerhalb der sowjetischen Erbe-Debatte, Zdhanovs radikale Interpretation des Kampfes von Idealismus versus Materialismus der einzige Standard. Ähnlich wie in der Philosophie, gibt es auch in der Literatur einen Vorboten auf die Kulturrevolution. Ende der 1950er entsteht die erste studentische Studie zur Literaturgeschichte, die wenig später noch von den Autoritäten im Feld korrigiert werden kann. 3) zur Genese: Als Modell der Anti-Hu-Shi-Kampagne diente die 1942 durchgeführte Ausrichtungskampagne auf die neue Ideologie. Die im Rahmen dieses Forschungsprojekts durchgeführten Interviews erlauben es, ein differenziertes Bild als bisher zur Organisation dieser Kampagne zu zeichnen. Aus Parteidokumenten wurde ersichtlich, dass der Begriff „Ausrichtung“ in den 1950er Jahren einen generischen Charakter für Kampagnen des Übergangs erhält. Der sowjetische Einfluss ist vielschichtig. Die sowjetische Theorie bleibt trotz einer Schwerpunktversetzung im marxistischen Kanon zu Maos Werken weiterhin fachlich relevant. In der philosophiehistorischen Debatte markiert die vermehrte Verwendung von Zitaten aus Lenins und Engels Werken einen reformerischen Standpunkt. Während Yan’an vor 1949 das Zentrum ist, aus dem später einflussreiche Historiker hervorgehen, ist es für die Literatur lediglich Zentrum einer für die Literaturschaffenden „instrumentalisierten Theorie“ (Günther) und dient im Bereich der Philosophie der Sinisierung des Marxismus. Anders als in der Literaturwissenschaft gab es für die Philosophiegeschichtsschreibung mit Chongqing ein Zentrum, in dem sich die in den 1950er Jahren einflussreichsten Akademiker befanden. Die Interviews mit bedeutenden Persönlichkeiten aus den 1950er Jahren haben zu ganz neuen und detaillierteren Erkenntnissen geführt. Die Transkription dieser insgesamt 33 Interviews ist abgeschlossen.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • „Wushi niandai zhishifenzi de mingyun 五十年代歷史學家的命運“ (Das Schicksal der Historiker in den 1950er Jahren), in Yan Huang Chunqiu 6 (2009), 40-45
    Wang, Weijiang
 
 

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