Der Staatsbildungskrieg vor Ort. Der Dreißigjährige Krieg in der Oberpfalz
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Bedeutung des Krieges für die Entstehung des modernen Staates wurde in der Forschung lange Zeit vornehmlich auf der Makro-Ebene von Steuerwesen und Verfassung diskutiert. Dieser Makro-Ebene stellt die neuere Staatsbildungsforschung zunehmend ein „statebuilding from below“ (André Holenstein) zur Seite, das die Aushandlungsprozesse von Herrschaft auf lokaler Ebene in den Blick nimmt und nach deren staatsbildenden Effekten fragt. Beschränkten sich diese Untersuchungen bislang auf nichtkriegerische Zeiten, machte das vorliegende Projekt das Konzept auch für vormoderne Kriegsphasen am Beispiel der Oberpfalz im Dreißigjährigen Krieg fruchtbar. Auf Grundlage archivalisch erhaltenen Verwaltungsschriftguts wurden lokale Herrschaftspraktiken als Ausdruck administrativer Kriegsbewältigungsstrategien rekonstruiert und nach ihren Wirkungen befragt. Die Ausgangshypothese lautete dabei, dass die Belastungen des Krieges zu einer Nachfrage der Untertanen nach staatlichen Regulierungsleistungen wie kontrollierter Quartiernahme und Militärversorgung führten, was im Laufe der lang andauernden Kriegsphase zur Habitualisierung einer Erwartungshaltung nach obrigkeitlicher Kontrolle führte und damit langfristig staatsbildend wirkte. Dieser These ging das Projekt in einer praxeologischen Perspektive nach, die besonders herrschaftliche Amtsträger und Untertanen als Akteure fokussierte. Auch aufgrund von Überlieferungslücken bei wichtigen Quellenbeständen (Justizakten, Supplikenregister, Protokollserien der Regierungsbehörden) musste die Ausgangsfragestellung während der Projektlaufzeit weiterentwickelt werden. So fokussierte sich die Untersuchung auf die Frage, wie es den landesherrlichen Behörden gelang, Akzeptanz für ihre Kriegsbewältigungsmaßnahmen zu generieren. Hierfür wurden zunächst die zentralen administrativen Verfahren zur Bewältigung des Krieges rekonstruiert, wobei besonders Kontributionen als Kriegsabgaben, das Einquartierungswesen sowie die katholische Konfessionalisierung als Mittel der herrschaftlichen Eingliederung des Territoriums in den erobernden bayerischen Fürstenstaat im Zentrum standen. Ein besonderes Augenmerk lag dabei auf der Rolle der Untertanen in diesen Verfahren. So wurden Partizipationsmöglichkeiten, Motive für eine Beteiligung, aber auch Handlungsalternativen herausgearbeitet und abgewogen. Hierbei ließen sich besonders zwei Faktoren als wesentliche Motive feststellen: Zunächst motivierten vor allem Recht und Herkommen bzw. habitualisierte Verwaltungspraktiken zur Kooperation mit der Obrigkeit: So orientierte sich das Kontributionswesen an etablierten Verfahren der Steuererhebung, das Einquartierungswesen an obrigkeitlichen Scharwerksdiensten und die katholische Konfessionalisierung an den konfessionalisierenden Maßnahmen der reformierten Pfalzgrafen des 16. Jahrhunderts. Hier lassen sich die Prinzipien einer „christlichen Obrigkeit“ wiederfinden, die sich an Recht und Gerechtigkeit orientierte und sich als paternalistisch-fürsorglicher „Landesvater“ inszenierte. Dazu gehörte auch, dass Verwaltungspraktiken die lokale politisch-soziale Ordnung abbildeten – etwa durch die Einbindung örtlicher Eliten. Der Krieg zwang die fürstliche Administration dennoch zu einer Veränderung der Verwaltungspraxis, welche die Untertanen stärker belastete. Solange diese Belastungen etwa durch Abgaben jedoch als geringer als die Schäden durch ihre Alternativen – insbesondere die Selbstversorgung der Truppe – bewertet wurden, versprachen sie eine Begrenzung der ökonomischen, sozialen und symbolischen Schäden. Entsprechend bemühten sich die örtlichen Amtsträger auch, die Akzeptanz des Militärs für obrigkeitliche Versorgungs- und Kontrollmaßnahmen zu gewinnen bzw. im Falle des Scheiterns Untertanen ggf. anderweitig zu kompensieren. Auch im Krieg gelang es der fürstlichen Administration damit, sich als Beschützer des Landes zu inszenieren und halbwegs stabile Strukturen aufrechtzuerhalten. Inwieweit diese Stabilität und eine Veränderung des Untertanen-Habitus im Krieg die Grundlage für die beschleunigten Staatsbildungsprozesse des späten 17. und 18. Jahrhunderts darstellten, konnte im Rahmen des Projekts aufgrund der Quellenlage nicht geklärt werden. Stichproben aus der Nachkriegszeit bieten jedoch zumindest Hinweise, dass die im Krieg modifizierten Verwaltungsverfahren über die Kriegszeit hinaus Bestand hatten und dauerhaft Akzeptanz fanden. Dass dies langfristig die Position der Landesherrschaft gegenüber den Untertanen stärkte und damit staatsbildend wirkte, liegt aufgrund der Befunde zumindest nahe.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Tradition und Pragmatismus. Herrschaftsakzeptanz und lokale Verwaltungspraxis im Dreißigjährigen Krieg, Göttingen 2021
Kraus, Johannes
- Tagungsbericht: Staatsbildungskrieg vor Ort? Lokalverwaltung und Krisenbewältigung im Dreißigjährigen Krieg, 27.01.2017, Erlangen, in: H-Soz-Kult, 27.04.2017
Pecho, Carolin