Unsicherheit, Angst und Misstrauen in Buenos Aires - Vertrauensbildung im Umfeld von Strafgerichtsprozessen
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das ethnologische Forschungsprojekt hatte es sich zum Ziel gesetzt, sich Vertrauensproblematiken in der Gesellschaft von Buenos Aires im Rahmen von Gerichtsverhandlungen zu nähern und empirisch zu erforschen, inwieweit der Judikative Möglichkeiten offen stehen, institutionelles und gesellschaftliches Vertrauen zu stabilisieren und soziale Konflikte zu entschärfen. Es zeigte sich, dass sich Fragen nach Misstrauen nicht nur auf das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Rechtssystem beziehen, sondern Misstrauen auch unter den Justizmitarbeitenden weit verbreitet ist. Obwohl Misstrauen einerseits als Problem für die Institution bewertet und eine Vielzahl von Praktiken angewendet werden, um Venrauenswürdigkeit zum Ausdruck zu bringen, befürworten die Justizmitarbeitenden andererseits eine generalisierte, misstrauische Haltung einzunehmen, die sich auf der Annahme aufbaut, dass andere Personen nie völlig begreifbar seien. Statt dieses Nichtwissen hinzunehmen und auf den Versuch zu verzichten, das Gegenüber zu ergründen, widmen sich die Juslizmitarbeitenden ausgiebig der Spekulation über andere Personen und soziale Gruppen. Die narrativ und performativ zum Ausdruck gebrachten Imaginationen wurden zur Unterhaltung, zur Darstellung von Scharfsinn und im Versuch einer Wahrheitsfindung, die vom Gerichtsverfahren entkoppelt ist, angestellt. Es zeigt sich, dass die so geschaffenen social imaginaries Gemeinsamkeiten aufwiesen und häufig das Motiv von Komplotten männlicher Akteursgruppen, die sich in der Vergangenheit zugetragen haben, im Zentrum stand. Neben dem Einfluss von Fiktionen, persönlichen Erfahrungen und Interpretationen geschichtlicher Verläufe, die als Ausgangspunkt dieser Strukturen von Imagination verstanden werden können, schlage ich vor, Ohnmachtsgefühle, die Justizmitarbeitenden in ihrem Berufsalltag erleben, als wichtige Komponente dieser Vorstellungen zu begreifen. In den Imaginationen werden Gefühlen von Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit Ausdruck verliehen und - unabhängig von der jeweiligen politischen Ausrichtung der jeweiligen Mitarbeitenden - grundlegende Zweifel an der Funktionsweise und gegenwärtigen Struktur des Justizwesens formuliert. Die Vorstellungsbilder sind damit auch als moralische Positionierungen der Justizmitarbeitenden und als kollektive Selbstvergewisserung zu verstehen. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts leisten so einen Beitrag zum besseren Verständnis vom Umgang der in staatlichen Institutionen beschäftigten Menschen mit Misstrauen. Sie zeigen, wie Annahmen von der generellen Undurchschaubarkeit von Menschen einerseits zu präventivem Misstrauen führen, andererseits aber nicht ausschließen, dass dennoch Bestrebungen zur Stärkung von Institutionsvertrauen unternommen werden. Weiterhin verdeutlichen die Forschungsergebnisse, dass Beziehungen von Vertrauen und Misstrauen stets auf Nichtwissensfelder verweisen, welchen - im Falle der Strafjustiz von Buenos Aires - mit Praktiken der Imagination begegnet wird. Die Analyse der Vorstellung verdeutlicht, dass innerhalb staatlicher Bürokratie Imagination genutzt wird, um moralische und ethische Positionierungen der Mitarbeitenden sowie deren Kritik an der gegenwärtigen Ausformung des Rechtssystems zum Ausdruck zu bringen. Damit leistet die Arbeit gleichsam einen Beitrag zur Untersuchung von social imaginaries und zur Analyse von ethischen und moralischen Spannungsfeldem, welche bürokratische Organisationen durchziehen.