Volkskunde als "Heimatwissenschaft": Region und Ethnos. Das Beispiel Schleswig-Holstein 1920-1940
Final Report Abstract
Volkskundliches Wissen hatte bereits vor der Etablierung des Faches Volkskunde an Universitäten eine große gesellschaftliche Präsenz und Relevanz. Volkskundliches Wissen wurde alltagsnah produziert und in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen rezipiert, bevor es auf den akademischen Bereich eingewirkt hat Durch eine soziale Verankerung des volkskundlichen Wissens in der Region allgemein und hier im Besonderen in Schleswigholstein besaß es eine große Wirkung und Gültigkeit. Das Projekt „Volkskunde als ,Heimatwissenschaft': Region und Ethnos. Das Beispiel Schleswig-Holstein 1920 - 1940" untersuchte anhand der beiden Teilprojekte zur Entstehung eines Wissensmilieus im Rahmen der Arbeiten am schleswig-holsteinischen Wörterbuch (1927-1935) und der Verflechtung kulturpolitischer Zielsetzungen mit volkskundlichen Wissensbeständen am Beispiel des Schleswig-Holsteiner-Bundes wie in Schleswig-Holstein volkskundliches Wissen verhandelt und im Kontext regional-nationaler Identitätspolitiken und einer akademischen Etablierung der Volkskunde transferiert wurde. Gerade die vom Projekt vertretene akteurszentrierte Untersuchungsperspektive fragt dabei gezielt nach dem Wissensmilieu, dem die Akteure angehören, also nach Status, Bedeutung und Position der Beteiligten im Prozess der Nutzung volkskundlichen Wissens. Besonders bei der Untersuchung der Publikationstätigkeiten des Schleswig-holsteiner-Bundes fällt auf, mit welcher Zielgerichtetheit die kulturelle Arbeit, die Veröffentlichungstätigkeit geplant war. Die Mitglieder des Schleswig-holsteiner-Bundes haben ihre Publikationen breit gefächert und durch ihre Herausgeberschaft eine stark durchgeplante inhaltliche Konzeption der Zeitschriften „Der Schleswig-Holsteiner" und des „Schleswig-holsteinischen Jahrbuch" als Wissensformate erreicht. Die genaue Planung von Inhalten lässt konkrete Aussagen über Themenkonjunkturen zu. Gerade der Aspekt des Niederdeutschen als Dialekt stellte sich dabei als sehr interessant heraus. Während Otto Mensing als Herausgeber des Schleswig-holsteinischen Wörterbuchs mit Hilfe vieler Hilfsarbeiter ein Kompendium des volkskundlichen Wissens in Schleswig-Holstein zusammenstellte und durch seine Arbeit gleichzeitig eine Legitimationsgrundlage schaffte für die Forderung nach einer Volkskundeprofessur an der Kieler Universität, publizierten die Mitglieder des Schleswig-Holsteiner-Bundes niederdeutsche Geschichte mit eindeutig grenzpolitischem Ziel. Dem Bund ging es um die Vermittlung der niederdeutschen Mundart als ein typisch deutsches Identitätsmerkmal. Hier sollte ganz bewusst eine geglaubte Gemeinsamkeit durch Ausschluss des Dänischen, der dänischen Bevölkerung, getroffen werden. Im Laufe der Untersuchung zur Publikationsarbeit des Bundes stellte sich heraus, dass sich durch die Bearbeitung gleicher Themenkreise eine Zusammenarbeit und gegenseitige Beeinflussung zwischen dem Forscher Otto Mensing und dem Schleswig-holsteiner-Bund etablierte. Es fand demnach ein Wissenstransfer zwischen den unterschiedlichen Formaten der Akteure statt, so dass die Publikationen des Bundes und das Wörterbuch von wechselseitigem Nutzen waren. Durch Otto Mensings hohe Vernetzungsarbeit in verschiedenen Wissensmilieus schuf er sich eine breite Öffentlichkeit und Akzeptanz, mit der der Forderung nach einem eigenen Lehrstuhl Nachdruck veriiehen werden konnte. Die Mitglieder des Schleswig-Holsteiner-Bundes versprachen sich von der Zusammenarbeit mit Mensing volkskundliche Forschungsergebnisse, gerade im Bereich des Niederdeutschen, die sie in ihrer grenzpolitischen Arbeit verwenden konnten. Dadurch kam es zu einer klaren Aufwertung niederdeutscher Themen, aber auch zu gemeinsam verfassten kulturellen Programmen, wie zum Beispiel dem Kulturprogramm für Schleswig-Holstein (1920), in denen unter grenzpolitischen Gesichtspunkten verschiedene Themenbereiche unterschiedlichen Experten zugewiesen wurden. Als Ergebnis der Untersuchung kann festgehalten werden, dass es eine Kluft gab zwischen den kulturpolitischen Absichten des Schleswig-holsteiner-Bundes ein breites Publikum anzusprechen, sie für ihre politischen Ziele zu gewinnen und der tatsächlichen Wirkung bei den Adressaten. Denn von Beginn an hatten „Der Schleswig-Holsteiner" und das „Schleswig-Holsteinische Jahrbuch" Absatzschwierigkeiten. Es fand sich nur eine kleine Zahl von Lesern, meist aus dem Umfeld des Herausgebers Ernst Sauermann. Es gab also ein Missverhältnis zwischen den grenzpolitischen Zielen und den tatsächlich angesprochenen Rezipienten. Die Arbeit des Bundes hatte durchaus eine Breitenwirkung, wenn die Einflussnahme in nahezu allen politischen und gesellschaftlichen Bereichen der Provinz ab 1920 betrachtet wird, aber das Hauptziel, mit seinen Veröffentlichungen eine breite Resonanz in der Bevölkerung der Provinz zu finden, scheint gescheitet zu sein. Die angespannte Finanzlage in der Provinz verhinderte den Lehrstuhl für Otto Mensing. Das Wörterbuch hingegen erschien zwischen 1927 und 1935 in fünf Bänden als Volksausgabe und konnte sich im Gegensatz zu den Publikationen des Schleswig-Holsteiner-Bundes eines außerordentlichen Erfolges erfreuen.
Publications
- "Volkskundliches Wissen und gesellschaftlicher Wissenstransfer: zur Produktion kultureller Wissensformate im 20. Jahrhundert". In: dgv-Informationen 4/2006, S. 8-10
- Volkstumsarbeit und Grenzregion. Volkskundliches Wissen als Ressource regionaler Identitätspolitik um 1920. In: Kieler Blätter zur Volkskunde 40/2008
Jenni Boie