Die Ortsmonographie als Wissensformat. Das Beispiel der Gemeindeforschungen im 20. Jahrhundert
Final Report Abstract
Als Gemeindestudie gilt in der Volkskunde eine wissenschaftliche Untersuchung, die das die ländliche, agrarisch geprägte Siedlung als kleinste gesellschaftliche Einheit betrachtet, in der sich alle alltäglichen und außer-alltäglichen Lebensvollzüge einer kulturellen Gemeinschaft empirisch beobachten lassen. Gemeindestudien waren nie reine Grundlagenforschungen und sind ein gutes Beispiel für empirische Forschung, die anwendungsnah war, ohne notwendigenweise das Ergebnis einer Auftragsarbeit zu sein. Dabei ist auch von Bedeutung, dass das typische Publikationsformat der Gemeindeforschung, die Ortsmonographie, immer auch nichtwissenschaftliche Lesergruppen zu erreichen vermochte. Das Projekt hat eine vergleichende Perspektive eingenommen, die Gemeindestudien verschiedener Disziplinen - neben der Volkskunde vor allem Soziologie, aber auch Agranwissenschaft und Geographie - berücksichtigte. Untersucht wurden Gemeindeforschungen, die in Gemeinden im Bundesland Hessen durchgeführt und im Zeitraum zwischen 1945 und 1970 publiziert wurden. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass es große Ähnlichkeiten zwischen den Gemeindestudien der Soziologen und der Volkskundler gab, insbesondere auch in der großen Bedeutung, die der Methode der langfristigen teilnehmenden Beobachtung zugemessen wurde. Die zeitlich vor der volkskundlichen Rückkehr ins Feld der Gemeindeforschung nach dem 2. Weltkrieg beobachtbare Revitalisierung der soziologischen Gemeindeforschung in Hessen erhielt bedeutende Impulse aus den nordamerikanischen Community Studies, die durch das US-amerikanische Engagement im Wiederaufbau der akademischen Lehr- und Forschungsinfrastruktur einflössen. Dagegen profitierte die etwas später wieder einsetzende volkskundliche Gemeindeforschung ab den 50er Jahren von der Orientierung an den deutschen soziologischen Theorien und Methoden, die zu diesem Zeitpunkt bereits den amerikanischen Einfluss in sich aufgenommen hatten. Das Hessen der Nachkriegszeit ist als exemplarische Forschungsregion auch deswegen interessant gewesen, weil neben den auch in anderen Bundesländern beobachtbaren Problemen, die erheblichen Politikberatungsbedarf an die Sozialwissenschaften herantrugen - die Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen, dann ab den 50er Jahren der Struktunwandel der Landwirtschaft, Landflucht, Industrialisierung und Urbanisierung -, hier eine hohe wissenschaftliche wie politische Aufmerksamkeit den von Marginalisierung bedrohten sog. "Zonenrandgebiete" galt, in denen auch eine Reihe von Gemeindeforschungen durchgeführt wurden. Neben der gesellschaftlichen und im engeren Sinne politischen Bedeutung von Gemeindeforschungen der Nachkriegsjahre in Hessen, die mit dem Konzept des "Wissenstransfers" analysiert wurde, wurden in Einzelfallstudien die spezifischen Vermittlungsformen und -orte, mit denen die Ergebnisse der Gemeindestudien öffentlich gemacht wurden, untersucht; hierfür wurde das Konzept des,"Wissensformats" verwendet. Wechselbeziehungen zwischen den Akteuren, die in den Nachkriegsjahren Gemeindeforschungen durchführten, in Auftrag gaben, förderten, popularisierten oder rezipierten, wurden mit dem Begriffs des "Wissensmilieus" konzeptualisiert. Die drei hier erprobten Begriffe - Wissenstransfer, Wissensformat, Wissensmilieu - bilden zugleich einen Beitrag zur Weiterentwicklung der kultur- und sozialanthropologisch geprägten Wissenschaftsforschung.
Publications
- DFG-Forschungsverbund: zum Start des DFG-Forschungsverbundes „Volkskundliches Wissen und gesellschaftlicher Wissenstransfer: zur Produktion kultureller Wissensformate im 20. Jahrhundert", in: dgv-Informationen H. 4, 2006, 8-10