"No Country for Old Men". Irland, Europa und die Erfindung der konfessionellen Grenze (ca. 1600-1642)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Zusammenfassend sind drei zentrale Projektergebnisse festzuhalten: (1) In Irland existierten erhebliche Spielräume für Praktiken der transkonfessionellen Soziabilität, die sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts – unter dem Eindruck neuartiger religiöser Reinheitsvorstellungen – paradoxerweise vergrößerten. Denn als sozialer ‚Abwehrmechanismus‘ bildeten sich radikale Vorstellungen einer spezifisch irischen und konfessionell inklusiven Gastfreundschaft heraus, die sich in zahlreichen Kontext als äußerst wirkmächtige soziale Leitnorm etablierte. Konkurrierende Normen, etwa das Gebot der rituellen Reinheit kirchennaher Räume, wurden zunehmend marginalisiert bzw. produktiv in diese neue Leitnorm integriert. Zugleich spielte der Faktor ‚Konfession‘ in der sozialen Praxis der Gastlichkeit keine Rolle, ausschlaggebend war einzig und allein der soziale Status der Beteiligten. (2) Die Norm, Verstorbene zwingend in den Grablegen ihrer gälisch-irischen ‚Clans‘ beizusetzen, adressierte weite Teile der frühneuzeitlichen irischen Gesellschaft. Im Projektverlauf ist deutlich geworden, dass sich Migrantinnen und Migranten durch die äußerst penible Einhaltung, ja geradezu ‚Übererfüllung‘ dieser Norm in ihre neuen lokalen Gemeinschaften integrierten. Aus dieser Akkulturationsstrategie ergaben sich zugleich erhebliche rituelle Probleme, da sie unentwegt religiöse Reinheitsvorstellungen etwa der Konfessionskirchen verletzte. Diese normative Konstellation führte nun aber gerade nicht zu Konflikten, sondern wurde in der sozialen Praxis erfolgreich eingehegt und in praktikable soziale Mechanismen überführt. Indem sie auf Dauer gestellte Lösungsstrategien erforderlich machten, begünstigten bestimmte Normenkonkurrenzen damit die friedliche Koexistenz verschiedener sozialer, kultureller und konfessioneller Gruppen, anstatt Konflikte zu generieren. (3) Schließlich ist deutlich geworden, dass englische bzw. schottische Protestanten, die als Verwaltungsspezialisten nach Irland gelangten, den Faktor Konfession aktiv zu neutralisieren versuchten. Stattdessen betonten sie – zunächst aus taktischen Gründen – soziale, ständische und landsmannschaftliche bzw. ‚ethnische‘ Gemeinsamkeiten und überbrückten auf diese Weise unentwegt Differenzen. Durch diese zunehmende, sich gegenseitig verstärkende Verschränkung von Stand, Ethnizität und Patronage entwickelten sie sich zu einer distinkten sozialen Gruppe, die ihr Verhalten zunehmend an genuin irischen Normen ausrichtete. Auf der Grundlage dieser Projektergebnisse war es möglich, eine neuartige Interpretation der frühneuzeitlichen irischen Geschichte zu entwickeln, die tiefgreifende Praktiken der Koexistenz freilegt, bisherige konfliktorientierte Modelle revidiert und so das Verhältnis von Konfession und Migration in der Frühen Neuzeit in Teilen neu bestimmt.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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„A Wall of Separation“. Die Vernichtung religiöser Ambiguität in Irland (ca. 1600– 1640), in: Zeitschrift für Historische Forschung 41 (2014), S. 89–123
Matthias Bähr
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Vorbeugung durch Vertrag. Konfessionelle Koexistenz in der irischen Bestattungskultur (1580–1640), in: Archiv für Kulturgeschichte 97 (2015), S. 129–151
Matthias Bähr
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Dangerous Fumes. Tobacco and the English Colonial Mind in the 17th Century, in: Éamonn Ó Ciardha, Gabriela Vojvoda-Engstler (Hg.), Politics of Identity in Post-Conflict States. The Bosnian and Irish Experience, London 2016, S. 19–37
Matthias Bähr
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Migration als intersektionale Praxis in der Frühen Neuzeit. Konfession, Stand und Ethnizität in Irland, in: Bähr/Kühnel (Hg.), Verschränkte Ungleichheit, Berlin 2018, S. 243 - 274
Matthias Bähr
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Verschränkte Ungleichheit. Praktiken der Intersektionalität in der Frühen Neuzeit, Berlin 2018 (Zeitschrift für historische Forschung / Beiheft ; Band 56). 372 S.
Matthias Bähr hrsg. gemeinsam mit Florian Kühnel