Ermittlungsmaßnahmen gegen Zeugnisverweigerungsberechtigte
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im deutschen Recht gibt es neben den für die Vernehmung geltenden Zeugnisverweigerungsrechten etliche Sonderregeln, die andere strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen gegen Zeugnisverweigerungsberechtigte einschränken. Diese Regeln werden seit langem als unsystematisch und widersprüchlich kritisiert. Zwar hat der Gesetzgeber im Jahr 2008 mit § 160a StPO den Versuch unternommen, eine allgemeine Regelung zu schaffen. Dieser Versuch kann schon deshalb als gescheitert angesehen werden, weil der Gesetzgeber selbst mit seinem Konzept nicht zufrieden zu sein scheint, wie die in den letzten zehn Jahren erfolgten Gesetzesänderungen belegen. Mit dem geförderten Projekt wird ein alternatives Konzept zur Berücksichtigung der mit den Zeugnisverweigerungsrechten verbundenen Interessen entwickelt. Dabei orientiert sich die Untersuchung an der Perspektive des Gesetzgebers, der einen ersten Regelungsentwurf erstellt. Kriterien zur Bewertung der Qualität von Gesetzesentwürfen können der Gesetzgebungslehre entnommen werden. Danach ist es u.a. wichtig, die von einer Regelung berührten Interessen sorgfältig zu ermitteln, um sie miteinander abwägen zu können. Die Interessenanalyse ergibt ein heterogenes Bild. Jedem Interessenträger (Zeuge, Beschuldigter, Dritter, Allgemeinheit) können mehrere Interessen zugeordnet werden, die allerdings nicht für alle Zeugnisverweigerungsberechtigten in gleicher Weise gelten. So betrifft etwa das Gespräch des Beschuldigten mit einem Arzt die Privatsphäre stärker als das mit einem Abgeordneten. Diese Interessenvielfalt hat Auswirkungen auf die gesetzliche Regelung. Deren Ausgestaltung hängt entscheidend davon ab, welchem Interesse mit der Regelung Geltung getragen werden soll, was wiederum eine Wertung ist, die der Gesetzgeber vornehmen muss. Eine detaillierte Untersuchung des geltenden Rechts zeigt jedoch, dass, wie zu Projektbeginn vermutet, keines der Interessen alle Sonderregeln zu erklären vermag. Hinzu kommt, dass das geltende Recht auf die Zeugnisverweigerungsrechte verweist und damit dem Zeugen eine Dispositionsbefugnis einräumt, die nicht mit allen Interessen in Einklang zu bringen ist. Ein weiteres Qualitätskriterium für Gesetze ist die Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht. Zu diesem Zweck werden die Grenzen untersucht, die dem Gesetzgeber durch Völkerrecht, EU-Recht und Verfassungsrecht gesetzt werden. Insbesondere aus dem EU-Recht ergeben sich Anforderungen für das Verhältnis zum Verteidiger, denen das geltende Recht nicht gerecht wird. Völker- und Verfassungsrecht enthalten hingegen wenig konkrete Vorgaben. Dies überrascht, weil gerade die Vereinbarkeit mit der Verfassung häufig als Argumentation für oder gegen eine bestimmte Regelung angeführt wird. Diese Erkenntnisse münden in einen Regelungsvorschlag, der in etlichen Punkten vom geltenden Recht abweicht: Die Regelung differenziert zwischen den Interessen von dem Beschuldigten nahestehenden Personen (§ 93a), dem Schutz der Kommunikation (§ 93b) und des Verteidigungsverhältnisses (§ 93c), die im Interesse des Beschuldigten geschützt werden, und dem Schutz von Abgeordneten (§ 93d) und Medienmitarbeitern (§ 93e), die im öffentlichen Interesse stehen. Die Vorschriften gelten unabhängig vom Bestehen eines Zeugnisverweigerungsrechts; der jeweilige Interessenträger ist dispositionsbefugt. Verstrickungsklauseln gelten nur in modifizierter Form. Das Verteidigungsverhältnis wird im Einklang mit EU-Recht geschützt. Die Abwägung bei Medienangehörigen wird vereinfacht. Insgesamt stellt der Vorschlag ein in sich stimmiges Gesamtkonzept zur Berücksichtigung der mit Zeugnisverweigerungsrechten verbundenen Interessen dar.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Die Beschlagnahme anwaltlicher Unterlagen im Unternehmensgewahrsam, GA 2014, 160-178
Rütters, Stefan/Schneider Anne
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Kommentierung der Richtlinie 2013/48/EU über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ..., in: Grützner, Heinrich/Pötz, Paul-Günter/Kreß, Claus (Hrsg.), 3. Aufl., Heidelberg 2007 ff., 40. Lfg. (Dezember 2016)
Schneider, Anne
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Was ist gutes Strafverfahrensrecht? Bausteine einer Strafverfahrensrechtsetzungslehre, in: Effer-Uhe, Daniel/Hoven, Elisa/Kempny, Simon/Rösinger, Luna (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswissenschaft?, 2016, S. 327-340
Schneider, Anne
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Die Auslegung von Rechtfertigungsgründen am Beispiel der strafprozessualen Ermächtigungsvorschriften, in: Asholt, Martin/Kuhli, Milan (Hrsg.), Strafbegründung und Strafeinschränkung als Argumentationsmuster, 2017, S. 141-157
Schneider, Anne:
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Strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen und Zeugnisverweigerungsrechte. Ein Gesamtkonzept zur Berücksichtigung der mit Zeugnisverweigerungsrechten zusammenhängenden Interessen und zur Harmonisierung der §§ 81c Abs. 3, 95 Abs. 2 S. 2, 97, 100d Abs. 5, 100g A
Schneider, Anne