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Migrationsentwürfe immobiler Akteure. Erwartungen, Diskurse und Praktiken männlicher Jugendlicher in der Hafenstadt Mahajanga / Madagaskar

Fachliche Zuordnung Ethnologie und Europäische Ethnologie
Förderung Förderung von 2012 bis 2017
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 219941374
 
Erstellungsjahr 2016

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Forschungsprojekt hat bislang unberücksichtigte Formen und Zusammenhänge von Migration und sozialen Mustern von Mittelklasse, Gender, Soziabilität, Bildung und Medienkonsum untersucht und analysiert. Ausgehend von einer urbanen Alltagskultur, die durch Wettbewerb, Misstrauen und Angst vor dem Neid Anderer geprägt ist, hat sich bei Jugendlichen ein Habitus der Verheimlichung oder Verschleierung herausgebildet, z.B. ausgedrückt in Schweigen, indirekter Rede und Praktiken von Höflichkeit. Diese Praktiken sind Basis für Facework, der Konflikt- und Schamvermeidung sowie Statusmanagement. Die Forschung eröffnet somit eine innovative Perspektive auf individuelle Ambitionen und Lebensprojekte einerseits, andererseits auf lokale Wahrnehmung von „Immobilität“ und anderen Restriktionen. Vor diesem Hintergrund eignen sich Migration und Migrationsprojekte besonders gut für die Untersuchung. Der Traum vom Leben Anderswo spiegelt gesellschaftliche Sehnsüchte und Hoffnungen auf individuellen Statuszuwachs und ein besseres Leben allgemein. Gleichzeitig sind die Schwierigkeiten erfolgreicher Migration so gravierend, dass nur eine Minderheit tatsächlich migriert. Erfolgreiche Migrationsprojekte veranschlagen oft mehrere Jahre und Jugendliche müssen zahlreiche Rückschläge hinnehmen. Gleichzeitig sind erfolglose Migrationsprojekte nicht grundsätzlich Ausdruck von „unfreiwilliger Immobilität". Die Dichotomien unfreiwillig/freiwillig bzw. Mobilität/Immobilität sind zu schematisch und können die komplexe, sich stets wandelnde soziale Realität Jugendlicher nicht angemessen erklären. Entscheidungen zur Migration sind situations- und kontextbedingt, genderspezifisch und vor allem nur bedingt planbar. Die Artikulation eines Migrationswunschs leitet nicht automatisch in Migrationsprojekte über. Stattdessen ist Migration für Jugendliche auf Madagaskar eine von vielen Optionen auf ein besseres Leben. Junge Männer bevorzugen beispielsweise Madagaskar gegenüber dem Ausland, während junge Frauen weitaus strategischer und langfristiger Migrationsprojekte planen und tatsächlich durchführen. Die Projektergebnisse besetzen damit einen Zwischenraum herkömmlicher Migrationstheorien zu Afrika, die zwischen Normalität von Migration und der „natürlichen“ Bevorzugung von Sesshaftigkeit oszillieren. Die Analyse historischer Migrationsmuster zeigt, dass sich Migration auf die Parameter Mittelklasse und Bildung zuspitzen lässt. Jugendliche aus dem Mittelklasse-Milieu sind besonders für Migrationsprojekte prädestiniert. Mittelklasse wird als eine prozessuale Kategorie des Werdens verstanden, d.h. eine Gruppe, die durch Ambitionen auf ein besseres Leben (strivers) und gleichzeitig durch Ängste vor Statusverlust geprägt ist (strugglers). Ein Großteil der Eltern aus dem Mittelklasse-Milieu arbeitet als Beamte im niedrigen Dienst in der Stadtverwaltung, als Polizisten oder Gendarmen. Ihr Habitus ist geprägt durch Manieren der „Bescheidenheit“ (tsotra), die „Gewöhnlichkeit“ spiegeln sollen. Prestigekonsum findet kaum statt und Lebensprojekte werden konsequent verschwiegen. Mittelklasse-Familien investieren strategisch in Land und höherer Bildung der Kinder. Die Bedeutung höherer Bildung ist in Madagaskar ungebrochen und Universitäten verzeichnen einen hohen Zulauf an Studenten. Dieser Sachverhalt widerspricht Thesen, wonach in Afrika Bildung im Angesicht hoher Arbeitslosigkeit von Jugendlichen eine geringe Rolle zugeschrieben wird. Tatsächlich garantiert ein Universitätsabschluss in Madagaskar heute nicht mehr automatisch einen Arbeitsplatz. Aus diesem Grund streben viele Jugendliche aus Mahajanga ein Studium im Ausland an. Allerdings geht die Bedeutung des Studiums für Jugendliche über das Ziel „Diplom“ hinaus. Das Studium in Madagaskar überbrückt die drohende Arbeitslosigkeit nach dem Abitur, es verspricht eine Erhöhung des sozialen Status und es läutet eine Phase gradueller Unabhängigkeit von den Eltern ein. Darüber hinaus ist die Universität ein Ort, an dem neue soziale Netzwerke geknüpft werden und Jugendliche mit neuen Erwerbsmöglichkeiten experimentieren. Während junge Männer oft neben dem Studium im informellen Handel (biznesy) aktiv sind, navigieren viele junge Frauen die Sex-Ökonomie, um eine stabile Beziehung zu einem reichen Madagassen oder Europäern aufzubauen. Beide Wege entsprechen normativen Vorstellungen von Maskulinität/ Feminität und können Migrationsprojekte positiv beeinflussen. Das umfangreiche Forschungsmaterial trägt signifikant zu einer Theorie der „Migration zu Hause“ bei und eröffnet gleichzeitig neue Forschungsperspektiven auf soziale Bedürfnisse, Hoffnungen und Wünsche von Jugendlichen und ihrer Familien auf Madagaskar. Im Hinblick auf die Erforschung von Misstrauen und Neid verspricht die Untersuchung einen hohen Erkenntnisgewinn zu Formen urbaner Soziabilität und individuellen Ambitionen. Sie wirft ein differenziertes Licht auf eine Region, die in der deutschsprachigen Forschung bislang weitgehend vernachlässigt wurde.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

 
 

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