Religiöse Vielfalt . Erleben - deuten - bewerten. Religionspädagogische Untersuchungen zum Umgang Jugendlicher mit religiös pluralen Situationen (REVIER)
Allgemeines und fachbezogenes Lehren und Lernen
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im Rahmen von REVIER (Religiöse Vielfalt erleben – deuten – bewerten) wurde untersucht, wie Jugendliche religiöse Vielfalt wahrnehmen und wann diese als problematisch oder unproblematisch bewertet wird. Anhand der Durchführung und Analyse von 30 Interviews mit Jugendlichen verschiedener sowie ohne Religionszugehörigkeiten im theoretischen Rahmen rekonstruktiver Sozialforschung und vorrangig mit sequenzanalytischen Methoden ist es uns gelungen, Formen und Tendenzen der Wahrnehmung von und Strategien des Umgangs mit religiöser Vielfalt zu rekonstruieren. Es konnten wiederkehrende Narrative zu Religion und Pluralität in den Interviews beschrieben und diese zur Thematisierung von Religion und Pluralität in gesellschaftlichen Diskursen in Beziehung gesetzt werden. Dabei wurde deutlich: Zum einen wird Religion in den Interviews weitgehend mit dem Islam assoziiert, wobei das Christentum als Religion oft ‚unsichtbar‘ bleibt, so dass eine Unterscheidung zwischen Muslimen einerseits und Christen und nicht-religiösen Menschen andererseits vorgenommen wird. Zudem beziehen sich die interviewten Jugendlichen positiv auf religiös-weltanschauliche Diversität und sehen Toleranz als wichtiges Gut an. Gleichzeitig wird – in latenter oder offensichtlicher Form – ein konfliktreiches Bild von religiöser Vielfalt gezeichnet, das ebenfalls entlang der Linie nichtmuslimisch/muslimisch verläuft. Dabei ist auffällig, dass viele nichtmuslimische Jugendliche in Parallelität zu dominanten Diskursen der Mehrheitsgesellschaft stereotype, zuweilen kulturalistisch-rassistisch geprägte Vorstellungen vom Islam haben und Muslim/innen nicht die gleiche Fähigkeit zu einer toleranten Haltung zusprechen wie Nichtmuslim/innen. Muslimische Jugendliche berichten hingegen von Diskriminierungen in Bezug auf ihre Religionszugehörigkeit, auch im Kontext Schule und ausgehend von Lehrkräften. Häufiger werden zudem Diskriminierungen erkennbar, die von den Jugendlichen gar nicht als solche benannt und möglicherweise auch nicht als solche empfunden werden. Die von uns interviewten Muslim/innen sehen sich in einer permanenten Verteidigungshaltung, und es gelingt ihnen dabei meist nicht, die ihnen im (innerschulischen, aber auch gesamtgesellschaftlichen Diskurs) zugeschriebenen Rollen herauszufordern. Schließlich zeigt die Analyse der Interviews, dass die Wahrnehmung von Religion hauptsächlich als Ursache von Konflikt durch nichtreligiöse wie religiöse Jugendliche mit der Strategie einhergeht, die Thematisierung von Religion wenn möglich zu vermeiden. Beispiele für ein produktives interreligiöses Lernen, das im Sinne eines ‚learning from religion‘ über ein distanziertes ‚learning about religion‘ hinausgeht, finden sich in den Interviews dagegen nicht. Die Ergebnisse der Interviewanalysen machen deutlich, dass didaktische Herausforderungen in Bezug auf das interreligiöse Lernen zum einen darin liegen, geeignete Wege zu entwickeln, um ein ‚learning from (other) religion(s)‘ zu initiieren. Dabei muss die Frage nach der implizieten oder expliziten Problematisierung von Religion im Allgemeinen und dem Islam im Besonderen in bestimmten hegemonialen Diskursen stärker in den Blick kommen, was bisher in der Religionspädagogik noch kaum geschieht. Zum anderen muss die Tendenz, z.B. in Curricula ‚Toleranz‘ als Mittel und Ziel interreligiösen Lernens zu bestimmen, mit einer kritischen Hinterfragung des Toleranzbegriffs im Kontext gegenwärtiger Diskurse zu Pluralität einhergehen, um die Reproduktion oben genannter Vorurteile gegenüber einem vermeintlich und per se intoleranten Islam zu vermeiden. Schließlich stellt sich die Frage, wie die Schule einen sicheren Raum für religiöse Minderheiten unter den Schülerinnen und Schülern schaffen kann, damit auch diese die Möglichkeit bekommen, eigene Positionen jenseits von Rechtfertigungsdruck zu entwickeln. Die Relevanz dieser Erkenntnisse liegt somit darin, dass sie für die Reflexion und Verbesserung von schulischer Praxis und Bildungspolitik fruchtbar gemacht werden können. Hierzu dienen bereits zahlreiche der Veröffentlichungen im Rahmen von REVIER.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- „Interreligiöse Kompetenz fördern. Lernen an einer interreligiösen Begegnungssituation“, in: Zeitsprung (Zeitschrift für den Religionsunterricht in Berlin und Brandenburg), Heft 2/2014: Islam im Unterricht. Begegnungssituationen gestalten können. Berlin 2014, 4-6
Willems, Joachim
- „Ansichten Jugendlicher zu religiöser Pluralität am Beispiel von Christentum und Islam“, in: Faix, Tobias/ Riegel, Ulrich/ Künkler, Tobias (Hrsg.), Theologien von Jugendlichen. Empirische Erkundungen zu theologisch relevanten Konstruktionen Jugendlicher. Berlin 2015, 35-48
Willems, Joachim
- „Keine Bedrohung, sondern Wahrnehmung eines Grundrechts – Muslimische Gebete in der Schule“, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik Bd. 14/2015, Heft 1, 16-38
Willems, Joachim
- „Komparative Jugendtheologie – ein sinnvoller Ansatz für interreligiöses Lernen?“, in: Gmainer-Pranzl, Franz/ Kowalski, Beate/ Neelankavil, Tony (Hrsg.), Herausforderungen interkultureller Theologie (Beiträge zur Komparativen Theologie Bd. 25), Paderborn 2016, 105-123
Willems, Joachim
- „Muslimische Jugendliche und ihre Erfahrungen mit 'Kirche' - Empirische Ergebnisse und Ansatzpunkte für jugendtheologische Gespräche“, in: Schlag, Thomas/Roebben, Bert (Hrsg.): "Jedes Mal in der Kirche kam ich zum Nachdenken". Jugendliche und Kirche (Jahrbuch für Jugendtheologie, Band 4). Stuttgart 2016, 145-159
Willems, Joachim
- »Wir waren Kopftuch schwarz, aber unser Oberteil war farbig« – Ein interreligiöses Gespräch über ein Stück Stoff in einer Berliner Schule, in: Roebben, Bert/Rothgangel, Martin (Hrsg.), „Die anderen braucht man im Unterricht, damit es ein bisschen voran geht“ : Jugendtheologie und religiöse Diversität. (Jahrbuch für Jugendtheologie, Band 5), Stuttgart 2017, 61-71
Willems, Joachim
- “The Position of Muslim Pupils in Discourses at German Schools: Two Accounts”, in: International Journal of Practical Theology, Band 21, Heft 2/ 2017a, 194-214
Willems, Joachim
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/ijpt-2016-0019) - „Dann merke ich auch hier, ich bin der Moslem“: Interreligiöse Kompetenz und Differenz, Diversität, Dialogizität“, in: Alkier, Stefan/ Schneider, Michael / Wiese, Christian (Hrsg.), Diversität – Differenz – Dialogizität. Religion in pluralen Kontexten. Berlin 2017, 360-378
Willems, Joachim
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110530865-016) - „Pluralitätsfähigkeit“ als Bildungsziel? Einige Überlegungen zur interreligiösen Bildung in der Migrationsgesellschaft“, in: Schreiner, Peter/ Otte, Matthias/ Staffa, Christian (Hrsg.), Ernstfall Schule. Die Rolle der Religionen in der Einwanderungsgesellschaft. Dokumentation einer Fachtagung am 22. November 2016 in Berlin. epd-Dokumentation 24/2017, 25-31
Willems, Joachim
- Interreligiöse Begegnungssituationen in der Schule. Sequenzanalysen im theoretischen Rahmen der dokumentarischen Methode, in: Bücker, Nicola/Roggenkamp, Antje/Schreiner, Peter (Hrsg.), Empirische Methoden und Forschendes Lernen im Gespräch. Einblicke in heterogene Bildungsorte. Berlin 2018, 115-130
Willems, Joachim
- Religion als Problem. Die religionskritische Aufgabe im interweltanschaulichen Religionsunterricht. Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 70(2) 2018, 142-152
Willems, Joachim
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/zpt-2018-0018)