Wo liegt Europa? Literarische Topographien der Gegenwart
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt hat essayistische und literarische Texte im Hinblick auf ihren Beitrag zur aktuellen Europa-Debatte erschlossen, die bislang nicht im Zentrum der Forschung standen (Emine Sevgi Özdamars Penkizi, ein Traumspiel, Marcia Bodrozics Mein weißer Friede, Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen, Robert Menasses Der europäische Landbote, Gert Maks In Europa, Jonas Lüschers Frühling der Barbaren, Jaroslav Rudiš' Die Stille in Prag u.a.). In theoretisch-methodischer Hinsicht waren die Ansätze des ,Spatial' und des ,Topographical Turn' leitend. Dabei hat sich gezeigt, dass über die Perspektive des Raums immer auch die Zeitdimension mit in den Blick gerät. Es konnte gezeigt werden, dass über je verschiedene Figurationen des Raums Geschichte veranschaulicht, ja nicht selten verbildlicht wird, sowohl die gemeinsame europäische Geschichte als auch Momente der nationalen Geschichtsschreibung. Dabei ist ferner deutlich geworden, dass die verräumlichte Geschichte stets als krisenhaft empfunden wird. Dies beginnt bereits mit dem mythologischen Moment der Europa-Erzählung, der Entführung der Europa durch den als Stier getarnten Zeus, die retrospektiv zur Begründungsfigur Europas wird. Auch das im Mythos bereits angelegte Moment der Bewegung (die Passage durch das Meer von Kleinasien nach Kreta) präfiguriert die topographische Europa-Dynamik, wie sie in den Texten der Gegenwart leitend wird. Europa wird als Passage erfahren, aber während in der älteren Europa-Literatur (vgl. etwa Enzensbergers Ach Europa!) die durchquerten Räume stabil sind und auch an den nationalstaatlichen Grenzziehungen festgehalten wird, verändern sich in der aktuellen Literatur mit der Durchquerung der Räume diese selbst. Krise und Raumdynamik wurden im Projekt erstmals aufeinander bezogen. Auf diese Weise konnte ein reflexiver Rahmen für die literarische Bearbeitung gegenwärtiger Problemkonstellationen der Gegenwart, etwa der Flüchtlingssituation, aber auch des Erstarkens nationalstaatlicher Tendenzen in Europa, gewonnen werden. Die im Projekt untersuchten literarischen und essayistischen Texte sind proeuropäisch; das was Europa im wahrsten Sinne des Wortes ,bewegt' und umtreibt, wird über ambitionierte literarische Verfahrensweisen ins Werk gesetzt. Insofern konnte auch der Zusammenhang von Europareflexion und Gattungsfrage neu aufgegriffen und diskutiert werden. Ob mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU nun eine neue Phase der Europa-Literatur einsetzt, d.h. nach der literarischen Deterritorialisierung die Reterritorialisierung erfolgt, wäre Gegenstand eines neuen Projekts.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- „Wo liegt Europa? Literarische Topographien der Gegenwart“, in: Europa? Zur Kulturgeschichte einer Idee, hg. v. Tomilsav Zelić, Zaneta Sambunjak und Anita Pavić Pintarić Würzburg: Königshausen & Neumann, 2015, 207-220 (leicht gekürzte und veränderte Version in: Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2014, 23-32)
Wagner-Egelhaaf, Martina
- „Während Preising schlief, ging England unter'. Der Topos der europäischen Krise in Jonas Lüschers Novelle Frühling der Barbaren", in: Europa? Zur Kulturgeschichte einer Idee, hg. v. Tomilsav Zelić, Zaneta Sambunjak und Anita Pavić Pintarić, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2015, 235-24
Weigang, Tristan
- Böhmen am Meer. Krisenfigur und literarischer Topos, in: Europa gibt es doch..., hg. v. F. Kläger und M. Wagner-Egelhaaf, 247-270
Wagner-Egelhaaf, Martina
- Europa gibt es doch... Krisendiskurse im Blick der Literatur, Paderborn: Fink 2016
Wagner-Egelhaaf, Martina und Florian Kläger (Hgg.)
- „Kartographische Projektionen. Zur autofiktionalen Medialität der Gegenwartsliteratur“, in: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch XV (2016), 15-39
Wagner-Egelhaaf, Martina
- „Visions of Europe in Fatih Akin’s The Evil Old Songs: Divided Past, Transnational Future?", in: Kraenzle C., Mayr M. (eds) The Changing Place of Europe in Global Memory Cultures. Palgrave Macmillan Memory Studies. Palgrave Macmillan, Cham, 2017, pp 119-136
Esseling, Eva-Maria
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-319-39152-6_7)