Epistemologies of the Knowledge of Man: Forms of Observing, Ways of Describing and the Material Culture of the Knowledge of Man ca. 1800
Final Report Abstract
Die mikrohistorische Rekonstruktion verschränkter epistemischer und politischer Dynamiken des Übergangs von republikanischen zu imperialen Wissens- und Sozialordnungen Frankreichs stellt eine Alternative zu den gängigen Diskontinuitätsnarrativen in der Geschichte der Humanwissenschaften dar. Sie geht über den begrenzten Rahmen einer auf die disziplinäre Entwicklung der Wissenschaften im engeren Sinne ausgerichteten Wissenschaftsgeschichte hinaus. Dadurch wurden die grundlegenden epistemischen Formationen sichtbar, in denen sich politische, ökonomische und moralische Probleme der post-revolutionären Sozialordnung herauskristallisierten. Die Laufbahn und Karriere Joseph-Marie de Gérandos eignete sich besonders, um das Forschungsprogramm im Rahmen einer Fallstudie zu entwickeln. Sowohl Protagonist nachrevolutionärer philosophischer und erkenntnistheoretischer Debatten war er zugleich Akteur in der administrativen Umstrukturierung des napoleonischen Staates und des frühen Aufbaus ökonomischer wie auch moralischer Assoziationen in Frankreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Als entscheidendes Element der Laufbahn Gérandos erwies sich in unserer epistemologischpolitischen Analyse seine Kritik der liberalen Staatsphilosophie der Ersten Republik und ihres Subjektverständnisses. Die ökonomisch-moralische Administration eines aktiven aber opaken nachrevolutionären Selbst, so zeigte Teilstudie A, wurde dem politischen-Subjekt der Revolution, dem Citoyen entgegengesetzt. Das Stichwort der Verwaltung des „Reichs des Selbst“ (l'empire de soi même) bot einen Schlüssel, um sowohl die Neuausrichtung staatlicher Erziehungs- und Wirtschaftspolitik wie auch die assoziative Bewegung nicht-staatlicher Akteure zu rekonstruieren. Im Mittelpunkt stand hierbei die Tendenz zur Selbstbegrenzung des Staates und zum Aufbau selbstverwalteter Institutionen. Sie entsprachen dem Verständnis eines administrativen Subjekts, dass grundsätzlich als Träger einer intrinsischen intellektuell-imaginativen Kraft verstanden wurde, die durch den Aufbau moralisch-ökonomischer Strukturen gefördert und gelenkt werden musste. Die nachrevolutionäre Humanwissenschaft, wie sie sich am Lebenslauf Gérandos rekonstruieren lässt, ging in den administrativen Staatsdienst und den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen mit ein. Ihr Hauptmerkmal war das Projekt moralischer Menschenbeobachtung als Instrument sozialer und administrativer Reform mit dem Ziel der Versöhnung eines autoritär-zentralisierten Staatsapparats mit der Forderung der eigenständigen Entwicklung der moralischen Kraft des Selbst. Die Rekonstruktion der Beobachtungstechniken am Menschen in Teilprojekt B hat neben einer Rekonstruktion von frühen institutionellen, epistemischen und sozialen Bedingungen der Konstruktion von Prkaktiken der Menschenbeobachtung auch aufgezeigt, in welcher Weise sich eine historische Epistemologie der Humanwissenschaften weiterentwickeln lässt. Die Ergebnisse der aus dieser Teilstudie hervorgegangenen Dissertation legen v. a. zwei Folgerungen nahe: Erstens besteht auch künftig ein Desiderat in einem weiterentwickelten methodologischen Rahmen für die Rekonstruktion humanwissenschaftlicher Forschungspraktiken. Zweitens hat die Dissertation gezeigt, dass die Geburt der Humanwissenschaften um 1800 intrinsisch mit mikroskopischen und makroskopischen Praktiken der Kontrolle und Normalisierung von menschlichen Verhaltensweisen v. a. im Rahmen von staatlichen Konstellationen betrachtet werden muss. Auch wenn hierzu bereits exzellente Arbeiten vorliegen (seit Foucault, Naissance de la prison), besteht weiterhin ein Mangel an Arbeiten, welche die jeweiligen konkreten Praktiken der Kontaktaufnahme, der Intervention, der Gesprächsführung etc. als Symptom und Ausdruck dieser zunehmenden Normalisierungs- und Abrichtungskonstellationen begreifen. Die Dissertation hat hierfür einen Beitrag für den konkreten Kontext der Société des observateurs de l‘homme geleistet und insb. an der Erforschung des sauvage de l‘Aveyron verdeutlicht, wie Mikrokontexte der Forschung ein differentielles Wechselspiel mit großflächigeren Verschiebungen von Subjektkonzeptionen eingehen. Es sind weitere Studien nötig, die dies für andere humanwissenschaftliche Bereiche durchführen. Auf der methodischen Ebene konnten beide Teilprojekte zeigen, dass ein Anschluss der Geschichte der Humanwissenschaften und ihrer Anwendungen in der Verwaltung an Vorschläge aus der historischen Epistemologie sinnvoll und möglich ist, wenn, wie geschehen, eine geeignete Anpassung an die Spezifika humanwissenschaftlicher Forschung erfolgt. Wir hoffen, dass der weiter zu entfaltende, vorläufig niedergelegte methodische Rahmen hierfür hilfreiche Anregungen gibt.
Publications
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