Consumer Netizens: Neue Formen von Bürgerschaft an der Schnittstelle von politischem Konsum und Social Web
Final Report Abstract
Das Ziel des Forschungsprojekts bestand darin, politischen Konsum im Netz als ein neues Feld bürgerschaftlichen Engagements genauer zu bestimmen. Wurde bislang politischer Konsum als Boykott bzw. Buykott (gezielter Kauf) verstanden, so lag dem Forschungsprojekt ein erweitertes Verständnis zugrunde, das auch Fragen der Lebensführung (Vegetarismus, Do-It-Yourself-Praktiken usw.) umfasste. Mit der zunehmenden Bedeutung des Internets und insbesondere sozialer Medien eröffneten sich für politische KonsumentInnen neue Möglichkeiten des Engagements, die über Einkäufe im Netz deutlich hinausgehen. Den Befunden des Forschungsprojekts zufolge umfasst politscher Konsum im Netz auch die Bildung sozialer Netzwerke und Organisationen politischer KonsumentInnen, die Teilnahme an (audio-)visuellen Formen von Öffentlichkeit (z.B. Video-Clips) aber auch die Verbreitung alltäglicher Praktiken mittels sozialer Medien. In methodischer Hinsicht wendete das Projekt einen mixed methods Ansatz an. Neben Webrecherchen, Gruppen- und Einzelinterviews kam dabei die neue Methode der Partizipationstagebücher zum Einsatz. Insgesamt 26 BürgerInnen aus vier Bundesländern berichteten über einen längeren Zeitraum schriftlich über ihre Aktivitäten im Netz. Schließlich wurden ausgewählte qualitative Befunde auf Basis einer repräsentativ quotierten Stichprobe mit Hilfe einer Befragung in einem Online-Panel (N=1.300) überprüft. Das Forschungsprojekt erzielte ein vierdimensionales Verständnis von politischem Konsum im Netz und damit von Consumer Netizens, also BürgerkonsumentInnen, die sich im Netz engagieren. Consumer Netizens tragen zu einer neuen Form von Citizenship bei. Sie zeichnen sich durch ein differenziert zu betrachtendes bürgerschaftliches Ethos aus; sie entwickeln neue Formen des Engagements im Sinne von Lifestyle Politics; sie schaffen lose, netzwerkförmige Organisationen, die dem erlebnisorientierten Individualismus engagierter BürgerkonsumentInnen entgegenkommen und schließlich beteiligen sie sich rege an der Politisierung von Produkten, Marken und Unternehmen in Form von Protest aber auch z.B. durch Propagierung einer nachhaltigen Energiewirtschaft. Im Ergebnis formuliert das Projekt einerseits eine Praxistypologie, die auf der individuellen Ebene die Praktiken unterschiedlicher BürgerkonsumentInnen differenziert. Die Praxistypologie weist insbesondere veränderte politische Genderrollen im Bereich des politischen Konsums aus und knüpft an konsumsoziologische Diskurse wie Prosuming, d.h. Partizipation von KundInnen bei der Produktentwicklung, an. Andererseits wurde im Projekt eine Typologie unterschiedlicher Sozialcharaktere erarbeitet, die vor allem nach dem Potential der Consumer Netizens fragt, Konsumentenmacht im Rahmen einer Verbraucherdemokratie zu mobilisieren. Insgesamt tragen die erarbeiteten qualitativen wie quantitativen Befunde des Projekts zu verschiedenen Diskussionen im Forschungsstand bei. Bezüglich der politischen Soziologie des politischen Konsums im Besonderen und der außerinstitutionellen Partizipation im Allgemeinen zeigen die empirischen Ergebnisse, dass Consumer Netizens nicht allein für individualisierte Abschottung und eine Abkehr der Bürger von politischen Fragen stehen; vielmehr zeigen sich neue Muster kollektiver Mobilisierung von Konsumentenmacht (z.B. Online-Petitionen) und politisch-kulturelle Versuche, gesellschaftliche Mehrheitsverhältnisse zu verändern. Netzutopische Vermutungen über neue egalitäre Formen zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation und massenhafte proaktive Partizipation ließen sich nur teilweise belegen. Demgegenüber zeigte sich überraschender Weise eine hohe Präsenz pragmatischer Vorgehensweisen zur Erprobung kollektiver Problemlösungen (z.B. Crowdfunding), die sich im Sinne Deweys Vorstellung „kreativer Demokratie“ erfassen lassen. Schließlich zeigen die Befunde auch, dass Frauen zumindest in diesem Engagementbereich gegenüber Männern aktiver sind. Consumer Netizens verhalten sich also gegenläufig zum allgemeinen Gender-Bias – sowohl im Netz als auch in der politischen Partizipation vor Ort.
Publications
- (2014): Reintermediation durch Social-Web? Eine Analyse von Social-Web-Projekten im Bereich des politischen Konsums. In: Oehmer, Franziska (Hrsg.): Politische Interessenvermittlung und Medien. Funktionen, Formen und Folgen medialer Kommunikation von Parteien, Verbänden und sozialen Bewegungen. Wiesbaden: Nomos, S. 399-423
Yang, Mundo/Baringhorst, Sigrid
- (2015): Konsum und Lebensstile als politische Praxis – Systematisierende und historisch kontextualisierende Annährungen, in: Baringhorst, Sigrid/Yang, Mundo/Quednau, Tobias (Hrsg.): Das Private ist politisch: Konsum und Lebensstile, Forschungsjournal Soziale Bewegungen, H. 2, S. 17-27
Baringhorst, Sigrid
- (2015): Politik des Lebensstils als eher weiblicher Partizipationsstil? Beteiligungspraktiken politischer Konsumentinnen und Konsumenten on/offline, in: Baringhorst, Sigrid/Yang, Mundo/Quednau, Tobias (Hrsg.): Das Private ist politisch: Konsum und Lebensstile, Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Heft 2, S. 46-56
Witterhold, Katharina
- (2015): Verbraucherinformation – Top down oder bottom up? Neue Formen netzbasierter Generierung einer kritischen Verbraucheröffentlichkeit In: Bala, Christian /Müller, Klaus (Hrsg.): Abschied vom Otto Normalverbraucher moderne Verbraucherforschung – Leitbilder, Information, Demokratie. Essen: Klartext Verlag, S. 145- 166
aringhorst, Sigrid /Witterhold, Katharina
- Nachhaltigkeit durch politischen Konsum und Internetaktivismus? Neue Engagementformen zwischen postdemokratischer Partizipation und demokratischem Experimentalismus, in: Diendorfer, Gertraut (Hrsg.): Demokratie als Beitrag zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Herausforderungen, Potenziale und Reformansätze 1. Studienverlag: Innsbruck, Wien, Bozen. 2016. S. 43-60
Baringhorst, Sigrid