Hormonelle und serotonerge Modulation neuronaler Netzwerke der Informations- und Emotionsverarbeitung bei Patientinnen mit Anorexia Nervosa
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im Vergleich zu anderen neuropsychiatrischen Krankheitsbildern sind biologische Forschungsansätze im Bereich der Essstörungen bisher unterrepräsentiert. Eine grundlegende Annahme für das nun weitestgehend abgeschlossene Arbeitsprogramm war, dass den relativ spezifischen Symptomen der Anorexia Nervosa (AN), allgemeinere neuropsychologische und neuronale Beeinträchtigungen zu Grunde liegen. Deshalb wurden die neuronalen Korrelate und Netzwerkeigenschaften von impliziter Informationsverarbeitung, kognitiver Kontrolle von Emotionen und Belohnung bei Patientinnen mit AN mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) untersucht. Um sekundäre Folgen der Unterernährung von prädisponierenden Faktoren zu trennen, wurden sowohl akut untergewichtige als auch kurfristig und dauerhaft gewichtsrehabilitierte Patientinnen eingeschlossen. Gleichzeitig wurden Plasmaspiegel wichtiger appetitregulierender Hormone, die auch Kognition und belohnungsabhängigen Verhalten beeinflussen können (Leptin, Ghrelin), bestimmt. In einer Subgruppe von ehemaligen Patientinnen wurde ein Neurotransmittersystem (Serotonerges System) mittels einer kurzfristigen diätätischen Maßnahme (akute Tryptophandepletion) moduliert. Die Experimente zur kognitiven Flexibilität ergaben in unserem Sample von Jugendlichen und jungen erwachsenen Patientinnen keine robusten Auffälligkeiten auf der Verhaltensebene. Allerdings zeigten zumindest die Patientinnen mit akuter AN einen sehr starken Effekt für eine erhöhte Aktivierung des medialen frontalen Cortex (dorsales anteriores Cingulum), vor allem in Phasen des Experimentes, in denen die Patientinnen negative Rückmeldungen über ihre Performanz erhielten und ein Verhaltenswechsel erfolgte. Bei ehemaligen Patientinnen war dieses Muster nicht mehr so stark ausgeprägt und es fand sich stattdessen eine erhöhte Aktivierung in lateralen, präfrontalen und parietalen Hirnarealen. Während der Antizipation von Belohnung (Geld) zeigten ehemalige AN-Patientinnen ebenfalls eine erhöhte Aktivierung in lateralen präfrontalen Hirnregionen, so dass die vorgenannten Befunde insgesamt im Sinne eines Versuches einer erhöhten kognitiven Kontrolle bei Patientinnen mit AN gewertet werden können. Entgegen den ursprünglichen Hypothesen konnten für die hormonellen Parameter keine robusten unabhängigen Zusammenhänge mit dem Verhalten oder den neuronalen Markern gefunden werden. Jedoch fanden sich bei den verschiedenen Patientengruppen Hormonspiegel in dem jeweils für diesen Krankheitszustand typischen Bereich, was bestätigt, dass die festgelegten Ein- und Ausschlusskriterien und die dazugehörige psychologischpsychiatrische Evaluation richtig und qualitativ hochwertig erfolgten. Bei den Untersuchungen der funktionellen Konnektivität im Ruhezustand ergaben sich sowohl bei akuten als auch bei ehemaligen Patientinnen ebenfalls Veränderungen in einem frontoparietalen Netzwerk, was mit kognitiven Kontrollfunktionen assoziiert wurde. Insofern stützen diese Befunde nochmals die o.g. Interpretation. Insgesamt deuten die Ergebnisse aus einer Reihe von Untersuchungen darauf hin, dass fortgesetzte Versuche, Anforderungen mit einer erhöhten kognitiven Kontrolle zu begegnen, eine wichtige Rolle bei dem Krankheitsbild AN zukommen könnte. Weitere Experimente sind nötig, um die genauen psychologischen und neuronalen Mechanismen besser zu verstehen. Unsere Forschungsergebnisse wurden nicht nur in den üblichen Fachartikeln sondern auch in Tageszeitungen und im Internet diskutiert. So zum Beispiel in den Artikeln „Magersucht ist auch männlich“ (Freie Presse Chemnitz, 12.03.2012), „Wenn Magersucht das Hirn auszehrt“ (www.dasgehirn.info, 01.02.2013), „Der Hirnabbau ist umkehrbar“ (ÄrzteZeitung, 08.12.2014), „Gramm für Gramm: So schwer ist der Kampf gegen eine Essstörung“ (www.focus.de, 07.08.2015), „Wir therapieren Achtjährige, die Anorexie haben“ (www.zeit.de, 08.01.2016). Auch durch TV-Beiträge, wie zum Beispiel zum Thema Schönheitswahn bei Jugendlichen (MDR um 11, 29.08.2016) oder durch Radio-Interviews, z.B. im Rahmen der fachlichen Begleitung bzw. Podiumsdiskussion anlässlich des Theaterstückes „Food Diaries“ bei MDR1 Radio Sachsen (25.02.2016), haben wir unsere Forschung an die Öffentlichkeit herangetragen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- (2017) Neural correlates of altered feedback learning in women recovered from anorexia nervosa. Scientific reports 7 (1) 5421
Ritschel, Franziska; Geisler, Daniel; King, Joseph A.; Bernardoni, Fabio; Seidel, Maria; Boehm, Ilka; Vettermann, Richard; Biemann, Ronald; Roessner, Veit; Smolka, Michael N.; Ehrlich, Stefan
(Siehe online unter https://doi.org/10.1038/s41598-017-04761-y) - Anorexia Nervosa: Aktuelle Neurowissenschaftliche Befunde. Z Kinder Jugendpsychiatr Psychother, 2014 Jan;42(1):39-50
Kappel V, van Noort B, Ritschel F, Seidel M, Ehrlich S
(Siehe online unter https://dx.doi.org/10.1024/1422-4917/a000268) - Increased resting state functional connectivity in the fronto-parietal and default mode network in anorexia nervosa. Front Behav Neurosci. 2014 Oct;8:346. eCollection 2014
Boehm I, Geisler D, King JA, Ritschel F, Seidel M, Deza Araujo Y, Petermann J, Lohmeier H, Weiss J, Walter M, Roessner V, Ehrlich S
(Siehe online unter https://doi.org/10.3389/fnbeh.2014.00346) - Elevated cognitive control over reward processing in recovered female patients with anorexia nervosa. J Psychiatry Neurosci. 2015 Jun;40(4):140249
Ehrlich S, Geisler D, Ritschel F, King JA, Seidel M, Boehm I, Breier M, Clas S, Weiss J, Marxen M, Smolka MN, Roessner V, Kroemer NB
(Siehe online unter https://doi.org/10.1503/jpn.140249) - Global cortical thinning in anorexia nervosa normalizes following long-term weight restoration. Biol Psychiatry. 2015 Apr;77(7):624-32
King JA, Geisler D, Ritschel F, Schober I, Seidel M, Roschinski B, Soltwedel L, Zwipp J, Pfuhl G, Marxen M, Roessner V, Ehrlich S
(Siehe online unter https://doi.org/10.1016/j.biopsych.2014.09.005) - Serum visfatin concentration in acutely ill and weight-recovered patients with anorexia nervosa. Psychoneuroendocrinology. 2015 Mar;53:127-35
Seidel M, King JA, Ritschel F, Döpmann J, Bühren K, Seitz J, Roessner V, Westphal S, Egberts K, Burghardt R, Wewetzer C, Fleischhaker V, Hebebrand J, Herpertz-Dahlmann B, Ehrlich S
(Siehe online unter https://doi.org/10.1016/j.psyneuen.2014.12.010) - (2016): Abnormal functional global and local brain connectivity in female patients with anorexia nervosa. J Psychiatry Neurosci. 2016 Jan;41(1):6-15
Geisler D, Borchardt V, Lord A, Boehm I, Ritschel F, Zwipp J, Clas S, King JA, Wolff- Stephan S, Roessner V, Walter M, Ehrlich S
(Siehe online unter https://doi.org/10.1503/jpn.140310) - Effects of perceptual body image distortion and early weight gain on long-term outcome of adolescent anorexia nervosa. Eur Child Adolesc Psychiatry. 2016 Dec;25(12):1319-1326
Boehm I, Finke B, Tam FI, Fittig E, Scholz M, Gantchev K, Roessner V, Ehrlich S
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s00787-016-0854-1) - Partially restored resting-state functional connectivity in women recovered from anorexia nervosa. J Psychiatry Neurosci. 2016 Apr;41(3):150259
Boehm I, Geisler D, Tam F, King JA, Ritschel F, Seidel M, Bernardoni F, Murr J, Goschke T, Calhoun VD, Roessner V, Ehrlich S
(Siehe online unter https://doi.org/10.1503/jpn.150259) - Increased anterior cingulate cortex response precedes behavioural adaptation in anorexia nervosa. Sci Rep. 2017 Feb 13;7:42066
Geisler D, Ritschel F, King JA, Bernardoni F, Seidel M, Boehm I, Runge F, Goschke T, Roessner V, Smolka MN, Ehrlich S
(Siehe online unter https://doi.org/10.1038/srep42066)