Ereignis Darmstadt. Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik 1964-1990 als ästhetischer, theoretischer und politischer Handlungsraum.
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Als bevorzugter Treffpunkt der musikalischen Avantgarden bieten die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt reichhaltiges Material für ein historiographisches Verständnis der komplexen Entwicklungen der 1960er bis 1990er Jahre. Das Projekt “Ereignis Darmstadt” hat sich nicht nur eine bisher wenig erforschte Periode der Ferienkurse vorgenommen, sondern damit überdies die Reflexion der Medialität der Quellenbasis verbunden: Die Darmstädter Ferienkurse zeichneten sich früh aus durch die Interaktion von Theorie, aktueller kompositorischer Praxis und Aufführung neuester Musik. Das Ereignishafte dieses Prozesses, d.h. nicht nur der Aufführungen, sondern auch dieser Eingemeindung der Theorie als einer Praktik des Reflektierens über aktuelle Musik in unmittelbarer Verbindung mit ihrer Produktion, sicherte die Zeitgenossenschaft und war Signum der Ferienkurse. Seit den späten 1960er Jahren waren deshalb nicht nur Konzerte, sondern bald nahezu flächendeckend auch Vorträge und Diskussionen durch Tonband- und später Videomitschnitte dokumentiert worden. Diese Mitschnitte und die durch sie repräsentierte Überlieferungsstrategie der Ferienkurse selbst sollten nun die zentrale Perspektive für eine Darstellung der Ferienkursgeschichte liefern. Eine solche Vorgehensweise zielt nicht in erster Linie auf eine Systematisierung und Bewertung ästhetischer oder kompositionstechnischer Standpunkte ab. Vielmehr werden die vielfältigen, nicht selten unübersichtlich genannten Entwicklungen vor allem über den Diskussions- und Handlungsraum „Darmstadt“ in einen Zusammenhang gebracht. Damit können auch die bis heute die Darstellungen prägenden Kontextquellen (etwa auch der journalistischen Debatten) quellenkritisch neu gelesen werden. Die bereits seit längerem problematisierte dogmatische Entgegenstellung von Erzählung und Darstellung, die die Debatte um die Polarisierung von Ereignis- und Strukturgeschichte trug, bricht angesichts einer solchen Quellensituation auf, indem sie den Übergang vom Erzählen zum Darstellen in den Quellen selbst beobachtbar machen kann. Die vielfältigen, nicht selten unübersichtlich erscheinenden ästhetischen Entwürfe werden aus der Perspektive des Diskussions- und Handlungsraums „Darmstadt” in einen Zusammenhang gebracht, der sich über die große Zahl der im Archiv der Ferienkurse vorhandenen Audioquellen erschließt. Diese überliefern mündliche Debatten und lassen die publizierten Texte als davon zu unterscheidende mediale Ebene hervortreten. Das schärft den Blick auf die Medialität der Quellen und ihren Zusammenhang mit diskursiven Funktionen, rückt die Aufmerksamkeit vom Was auf das Wie. Erst vor diesem Hintergrund wird die wirkmächtige Repräsentationsfunktion der Publikationen analysierbar, die Prozesshaftigkeit der Verständigung auch über Begriffsbildungen sichtbar, und es treten zugleich die Figuren hervor, die die Debatten gestalten. Zu den bemerkenswerten Erkenntnissen, die diese Perspektivierung ermöglichte, gehören neben einem veränderten Bild der ästhetischen und kompositionsgeschichtlichen Entwicklungen der 1960er bis frühen 1990er Jahre die Bedeutung einer breiter gefassten institutionellen Landschaft für die Positionierung der Ferienkurse sowie die implizite wie explizite Präsenz und die Wandlungen vergangenheitspolitischer Argumente für die Begründung einer Avantgarde (hier greift eine Interaktion mit dem DFG-Projektpaket “Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit”), die sich – jedenfalls aus der Sicht Friedlich Hommels – schließlich nicht mehr in der Identifikation fortgeschrittener Standpunkte, sondern in der Ermöglichung produktiver Debatten zeigt.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- "Komponieren als Antizipation. Entwurfspraktiken in der zeitgenössischen Musik und die Chancen einer vergleichenden Skizzenforschung", in: Die Tonkunst (Themenschwerpunkt: Phänomen Skizze) 9 (2015) 2, S. 161-176
Dörte Schmidt
- „New Philological Strategies in Music History and the Politics of Research“, in: Music Research in the Digital Age: IAML-IMS Plenary Session, IAML New York 2015
Dörte Schmidt
- Ein Sequenzer kommt selten allein. Zur Handhabung musikalischer Automatisierung – ästhetische Diskurse und technische Entwicklungen, in: Techno Studies. Ästhetik und Geschichte elektronischer Tanzmusik, hg. v. Kim Feser u. Matthias Pasdzierny, Berlin 2016, S. 221–235
Kim Feser
- „La globalizzazione dell’ascolto“, in: Musica e società. Volume 3 – Dal 1830 al 2000, hrsg. v. Virgilio Bernardoni und Paolo Fabbri, Lim, Lucca 2016, S. 641–669
Pietro Cavallotti
- „‚Ereignis‘ Darmstadt. Das ‚Archiv‘ des Internationalen Musikinstituts Darmstadt oder: Wie überliefert man Auseinandersetzungen mit und über Kunst?“, in: Archive zur Musikkultur nach 1945. Verzeichnis und Texte, hrsg. v. Antje Kalcher u. Dietmar Schenk, München 2016 (Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit), S. 104–121
Kim Feser, Susanne Heiter, Dörte Schmidt
- Modular – semi-modular – nicht-modular. Spannungsgesteuerte Synthesizer zwischen Komplexität und Spielbarkeit / Modular – semi-modular – non-modular. Voltage-Controlled Synthesizers Between Complexity and Playability, in: Good Vibrations. Eine Geschichte der elektronischen Musik-instrumente, hrsg. v. Conny Restle et al., Berlin 2017, S. 29–33
Kim Feser
- Helmut Lachenmann, Musica come magia infranta. Scritti e interviste, Ricordi u. Lim, Milano u. Lucca 2018, 246 S.
Pietro Cavallotti u. Luigi Pestalozza (Hrsg.)
- The Darmstadt Events’. Archival Strategies, Music-Historical Work and Cultural-Political Research Perspectives on the Development of the Digital Archive
Dörte Schmidt (in collaboration with Pietro Cavallotti, Susanne Heiter, Kim Feser)
- "Komponisten, Interpreten und Editoren debattieren über Notation. Die Quellen aus dem Umfeld der Darmstädter Ferienkurse und ihre editorische Relevanz", in: Editio, Bd. 33 (2019), Heft 1, S. 64-8
Dörte Schmidt
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/editio-2019-0005) - "In Between: Cultural Exchange and Competing Systems", in: twentieth-century music 17/3 (2020), S. 347-359
Dörte Schmidt
(Siehe online unter https://doi.org/10.1017/S147857222000016X) - "Jeder hat [eine] eigene Tradition, wie jeder eine Vergangenheit hat. Younghi Pagh-Paan in Freiburg und Darmstadt in den 1970er und 1980er Jahren", in: Auf dem Weg zur musikalischen Symbiose. Die Komponistin Younghi Pagh-Paan, hg. von Claudia Maurer Zenck, Mainz 2020, S. 25-42
Dörte Schmidt
- "Schrift. Werk. Performance. Neue Musik", in: Musik und Schrift. Interdisziplinäre Perspektiven auf musikalische Notation, hg. von Carolin Ratzinger, Nikolaus Urbanek und Sophie Zehetmeier, Paderborn 2020 (= Theorie der musikalischen Schrift 1), S. 275-299
Dörte Schmidt
(Siehe online unter https://doi.org/10.30965/9783846763537_011) - Sequenzer-Programm für Mesías. Zum Verhältnis von Schaltung, Automation und instrumentalem Spiel in Peter Eötvös’ Elektrochronik, in: Mitteilungen der Paul Sacher Stiftung 33/2020, S. 30–36
Kim Feser
- Strategien der Sicherstellung. Zur Teilnehmerversammlung von 1970 und ihrer Folge bei der Programmgestaltung der Darmstädter Ferienkurse 1972, in: ANKLAENGE 2019. Sicherheit – Risiko – Freiheit. Fragen der (Un-)Sicherheit in der Komposition, Aufführung, Rezeption und Programmierung neuer Musik, hg. v. Juri Giannini, Andreas Holzer u. Stefan Jena, Wien 2021, S. 25–40
Pietro Cavallotti
(Siehe online unter https://doi.org/10.2307/j.ctv1jpf636.5) - Abseits der Institutionen: Orte, die Tiere (nicht) ermöglichen: Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, in: Von Admiral bis Zebrafink. Tiere und Tierlaute in der Musik nach 1950, Schliengen 2022, S. 215-221
Susanne Heiter
- Chronologie der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik, 1967–1994, online publ. 2022
Heiter, Susanne, Kim Feser, Pietro Cavallotti und Dörte Schmidt