Bildung und sozialer Wandel: Zur Dynamik zwischen staatlichen Bildungsorganisationen und sozialen Milieus am Beispiel der türkischen Curriculumsreform 2004.
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Der komplexe Zusammenhang von Bildung und sozialem Wandel lässt sich am Beispiel der türkischen Curriculumreform von 2004 rekonstruieren. Hierzu wurden sowohl die Entstehung des neuen, konstruktivistischen Curriculums als auch seine Praktizierung in fünf unterschiedlich situierten Primarschulen des Landes unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen und historischen Kontexts analysiert. Basis der empirischen Analyse war vor allem die dokumentarische Interpretation von Experteninterviews mit Curriculumentwicklern sowie Gruppendiskussionen mit Lehrern, Schülern und ihren Eltern. Es konnte gezeigt werden, dass das neue Curriculums nicht aus einem intentionalen, geplanten Prozess heraus entstanden ist, sondern aus dem Zusammenspiel teils divergenter Dynamiken, die je auf ihre Weise dem sozialen Wandel des Landes geschuldet sind: In einem kurzen Gelegenheitsfenster (Regierungsbildung durch eine neue Partei) wurde der Transfer einer in der Gesellschaft verankerten Unzufriedenheit mit dem alten (behavioristisch geprägten) Curriculum in den Wissenschafts- und Bildungssektor möglich. Aufgrund der Ablehnung der neuen Regierung kam es dort nicht zur breiten Diskussion und Kompromissbildung bezüglich eines neuen curricularen Ansatzes; vielmehr wurde die allgemeine Unzufriedenheit mit dem alten Curriculum von einem kleinen Organisationsmilieu aus bereitwilligen Wissenschaftlern, die bereits gemeinsame curriculare Überzeugungen teilten, spezifiziert und in die Entwicklung eines neuen Curriculums überführt. Im Zuge dieser Transfers über unterschiedliche gesellschaftliche Sektoren und Ebenen hinweg entstand somit ein ‚transintentionales‘ Ergebnis. Verfolgt man den Curriculumwechsel weiter bis zum Unterricht in den Einzelschulen des Landes, so treten hier Orientierungen bzgl. schulischer Lehre, wie sie bei Lehrern und Eltern vorherrschen, in den Prozess ein. Zunächst ist ein wesentlicher Unterschied zwischen zwei generationell geprägten Organisationsmilieus von Lehrer(inne)n festzustellen: Entgegen unseren Annahmen blieb die Generation jener altgedienter Lehrer/innen, die im alten Curriculum beruflich sozialisiert waren, letzterem von der Substanz her nicht verhaftet. Gleichwohl behielten sie die Art ihrer curricularen Praktiken bei: Wie schon beim alten Curriculum, das eher einem abstrakten Lehrplan glich, beachteten sie nur die curricularen Ziele und gestalteten den Unterricht gemäß ihrer eigenen, erfahrungsbasierten Methoden. Im Unterschied hierzu trugen die Junglehrer/innen auch den im Ministerium ausgearbeiteten Unterrichtsplänen Rechnung. Allerdings orientierten sich diese Novizen nicht nur am Curriculum, sondern auch an der, eher informellen Erwartung, dass sie ihre Schüler/innen auf den standardisierten Test, der den Übergang in ein mehr oder weniger prestigeträchtiges Gymnasium reguliert, vorbereiten. Diese Differenz in den Unterrichtspraktiken wird zum einen dadurch verschärft, dass es an der untersuchten Unterschichtsschule nur Novizen, an den urbanen Mittelschichtsschulen aber nur erfahrene Lehrer gibt. Zum anderen treffen die Lehrer an den urbanen Schulen auf die spezifischen Erwartungen der Eltern: In den von Mittelschichten dominierten urbanen Schulen sind die Eltern damit zufrieden, dass die Lehrer gemäß des Curriculums unterrichten. Dies wird auch dadurch möglich, dass sie ihre Kinder zusätzlich auf privat finanzierte ‚Paukschulen‘ schicken, in denen jene auf die Übergangstests vorbereitet werden. Die Eltern der von Unterschichtsmilieus dominierten Schule können die Testvorbereitung privat nicht finanzieren und verlangen von den Lehrern, statt des curricularen Unterrichts ihre Kinder auf das Lösen von Multiple Choice-Aufgaben vorzubereiten. Im urbanen Kontext sind die Übergangstests offensichtlich besser institutionalisiert als das neue Curriculum. Der Testerfolg ist sogar ein Kriterium in der informellen Konkurrenz zwischen Lehrern, Schulen und Schulbezirken. Hier geht es um Prestige, das darüber entscheidet, welche Schulen für welche Schülermilieus attraktiv sind und entsprechend auf deren kulturelle, soziale und ökonomische Ressourcen hoffen können. In den beiden ländlichen Schulen des Samples ist hingegen die Bildungskarriere weniger bedeutsam, zudem gibt es kaum Auswahl zwischen Gymnasien, sodass dort die (ohnehin eher gemischten) Lehrergenerationen, unbeeinflusst durch Eltern, ihren Orientierungen gemäß unterrichten können.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Turkey: Education and Social Change – Inquiries into Curriculum Reform in Turkey. In: Nadiya Ivanenko (Hg.): Education in Eastern Europe and Eurasia (Education Around the World Series). London u.a.: Bloomsbury, S. 127-147
Nohl, Arnd-Michael/Somel, R. N.
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Education and Social Dynamics: A Multilevel Analysis of Curriculum Change in Turkey. [Studies in Curriculum Theory Series, hrsg. v. William Pinar] New York u. London: Routledge 2015
Nohl, Arnd-Michael/Somel, R. N.
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Practicing a New Curriculum in Turkey: Loose Coupling, Organisational and Social Milieus, and their Practical Capital Formations. British Journal of Sociology of Education, 37:8, 1167-1186, 2016
Nohl, Arnd-Michael/Somel, R. N.