Inwiefern ist die Eliteförderung mit der Forderung nach Chancengleichheit vereinbar?
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Bildungssystem ist in letzter Zeit verstärkt mit dem Auftrag konfrontiert, so genannte „Bildungseliten“ zu befördern. Damit wird in der Regel auf die Beförderung von „Begabten“ bzw. von „Begabungen“ verwiesen. Förderung soll demnach solchen Personen zur Verfügung gestellt werden, die über ein bestimmtes, mindestens überdurchschnittliches Niveau an intellektueller Begabung verfügen. In diesem Zusammenhang wird die These vertreten, die Begabtenförderung sei ein Gebot der Chancengleichheit. Dieses Projekt hat jedoch gezeigt, dass diese These aus mehreren Gründen nicht haltbar ist. Erstens geht sie auf ein problematisches Verständnis „natürlicher“ Begabungen zurück. Da sich natürliche und soziale Faktoren der Leistungsfähigkeit des Einzelnen nicht voneinander isolieren lassen, ist die Vorstellung von Begabungsgerechtigkeit als herkunftsunabhängiger Bildungsförderung nicht zu halten. Zweitens gehen Forderungen nach Chancengleichheit auf die Annahme zurück, eine Ungleichheit im Ergebnis könne dadurch gerechtfertigt werden, dass die Individuen für diese Ungleichheiten selbst verantwortlich sind. Das trifft auf ungleiche Bildungsergebnisse aufgrund unterschiedlicher Begabungen jedoch nicht zu. Drittens wird die Begabtenförderung oftmals mit perfektionistischen Vorstellungen des guten Lebens verbunden. In diesem Projekt hat sich jedoch gezeigt, dass dieser Perfektionismus der Sache nach fragwürdig ist und zudem zentrale Gerechtigkeitsüberlegungen unberücksichtigt lässt. Die Begabtenförderung ist also kein Gebot der Chancengleichheit. Läuft sie Forderungen nach einem gerechten Bildungssystem sogar entgegen? Obwohl individuelle Begabungen nichts sind, wofür man jemanden verantwortlich machen kann, ist die Rede von einer Gleichheit der Chancen offenbar alternativlos, wenn Bildungsgerechtigkeit adressiert werden soll. Dies liegt daran, dass die Forderung nach einer Gleichheit der Bildungsergebnisse keine tragfähige Alternative darstellt. Dennoch sollten Forderungen nach gleichen Bildungschancen die starke Abhängigkeit sowohl der vermeintlich „natürlichen“ Begabungen als auch der Bildungsaspirationen von der sozialen Herkunft thematisieren. Ansonsten besteht die Gefahr, dass vermeidbare Unterschiede in den Bildungsergebnissen voreilig damit gerechtfertigt werden, dass es sich um die Folgen unterschiedlichen Talents und Motivation handelt. Zudem garantieren gleiche Bildungschancen nicht die Realisierung umfassender Chancengleichheit, und nicht einmal die Einlösung suffizienztheoretischer Forderungen. Auf der Grundlage egalitaristischer wie auch suffizienztheoretischer Forderungen spricht stattdessen viel dafür, die für weniger begabt erklärten Kinder mittels Erziehung besonders zu fördern. Nicht die Förderung von Bildungseliten, sondern derjenigen, denen das Lernen schwerer fällt, ist somit eine primäre Forderung der Bildungsgerechtigkeit.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- (2012): A Dilemma for Perfectionism. In: Ethical Perspectives 19, 557-565
Meyer, Kirsten
- (2012): Bildung, Chancengleichheit und gutes Leben. In: I. Wallimann-Helmer (Hrsg.): Chancengleichheit und "Behinderung" im Bildungswesen. Freiburg: Alber, 165-185
Meyer, Kirsten
- (2013): Wer hat, dem wird gegeben. Hochbegabtenförderung und Gerechtigkeit. In: Zeitschrift für Pädagogik 59, 112-130
Meyer, Kirsten/Streim, Benjamin
- (2014): Educational justice and talent advancement. In: K. Meyer (Hrsg.): Education, Justice and the Human Good. Fairness and equality in the education system. Oxford/New York: Routledge, 133-150
Meyer, Kirsten
- (2014): Fair equality of opportunity and educational justice. In: K. Meyer (Hrsg.): Education, Justice and the Human Good. Fairness and equality in the education system. Oxford/New York: Routledge, 113-132
Stroop, Constantin
- (2014): Introduction. In: K. Meyer (Hrsg.): Education, Justice and the Human Good. Fairness and equality in the education system. Oxford/New York: Routledge 2014, 1-13
Meyer, Kirsten
- Education, Justice and the Human Good. Fairness and equality in the education system. Oxford/New York: Routledge 2014
Meyer, Kirsten (Hrsg.)
- Bildung. S. 363-367. In: Mieth, Corinna/Goppel, Anna/ Neuhäuser, Chris: Handbuch Gerechtigkeit. Stuttgart: Metzler, 2016. 978-3-476-02463-3
Meyer, Kirsten
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-476-05345-9_58) - Chancengleichheit. S. 164-167. In: Mieth, Corinna/Goppel, Anna/ Neuhäuser, Chris: Handbuch Gerechtigkeit. Stuttgart: Metzler, 2016. 978-3-476-02463-3
Meyer, Kirsten
(Siehe online unter https://doi.org/10.1007/978-3-476-05345-9_26)