Adaptive Regelung hybrider Fahrwerkssysteme
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die vertikaldynamische Aufgabe der Radaufhängung eines Fahrwerks besteht in erster Linie darin, das aufgrund von Fahrbahnunebenheiten ständig massiv aus seiner Ruhelage ausgelenkte Rad-Aufbau-System stets schnell in seine Gleichgewichtslage zurückzuführen. In konventionellen Fahrwerken kommen dabei passive Komponenten wie Feder und Dämpfer zum Einsatz. Bei der Auslegung wird berücksichtigt, dass die auf die Fahrzeugaufbaumasse wirkenden Kräfte und damit Beschleunigungen der Fahrzeuginsassen so klein wie möglich sein sollen (Fahrkomfort). Dies verlangt nach einer weitgehenden Entkopplung zwischen Aufbau und Rad. Gleichzeitig aber darf die Schwankung der Radaufstandskraft – die sogenannte dynamische Radlast – eine gewisse Grenze nicht überschreiten, um stets Lenk- und Bremskräfte zwischen Reifen und Straße übertragen zu können (Fahrsicherheit). Dieser Aspekt wiederum bedarf einer vergleichsweise straffen Anbindung des Rads an den Aufbau, wodurch ein Zielkonflikt bei der Auslegung konventioneller Fahrwerke deutlich wird. Im Rahmen des im Folgenden beschriebenen Forschungsvorhabens sind basierend auf der neuartigen Fahrwerkskonfiguration des hybriden Fahrwerks – bestehend aus aktiven und semiaktiven Aktuatorkomponenten – fortschrittliche Methoden der Regelungstechnik in der vertikaldynamischen Fahrwerkregelung angewendet worden ohne dabei relevante technische, praktische und wirtschaftliche Randbedingungen außer acht zu lassen. Mit dem Ziel einer größtmöglichen Entschärfung des vorgenannten Zielkonflikts in der Fahrwerkregelung zwischen Fahrkomfort und Fahrsicherheit ist ein Regelungskonzept realisiert worden, das die Adaption des vertikaldynamischen Verhaltens an den aktuellen Fahrzustand erlaubt. Durch den Einsatz der hybriden Fahrwerkskonfiguration in Kombination mit dem vorgestellten adaptiven Regelungskonzept ist es möglich, eine erhebliche Komforterhöhung für die Insassen zu erzielen und gleichzeitig die Radlastschwankungen soweit zu begrenzen, dass der Fahrbahn-Reifen-Kontakt und damit die Fahrsicherheit stets sichergestellt sind. Das entwickelte Regelungskonzept besitzt einen hierarchischen Aufbau derart, dass in einem übergeordneten Fahrwerkregler zu jedem Zeitpunkt die optimale Gesamtkraft zwischen Aufbau und Rad bestimmt wird. Auf der Basis von genauen Modellen des Fahrwerks werden dann Referenzkräfte für die zur Verfügung stehenden Aktuatoren berechnet, wobei Kräfte berücksichtigt werden, welche bereits aufgrund der passiven Komponenten der Radaufhängung auch ohne Stelleingriff zur Verfügung stehen. Diese Referenzkräfte werden dann an unterlagerte Aktuatorregler kommandiert, deren Aufgabe es ist, die Wunschkräfte möglichst vollständig mit Hilfe einer aktiven Federfußpunktverstellung und einem semiaktiven, hydraulischen Verstelldämpfer zu realisieren. Zu diesem Zweck sind physikalisch motivierte, nichtlineare Modellbeschreibungen verschiedenen Detaillierungsgrades für das reale Fahrwerkssystem einschließlich der Sensorik und Aktuatorik abgeleitet sowie parametriert worden. Um auch nicht-messbare Größen für die Fahrwerk- und Aktuatorregelung heranziehen zu können, wurden verschiedene Verfahren der nichtlinearen Signalund Zustandsrekonstruktion entwickelt und in Bezug auf Schätzgüte, Echtzeitfähigkeit und Implementierungsaufwand untersucht. In diesem Zuge sind insbesondere signalbasierte Ansätze sowie ein Verfahren zur nichtlinearen Zustandsrekonstruktion mittels einer Takagi-Sugeno (TS) Darstellung des Fahrwerkssystems in Kombination mit der Kalman-Filtertheorie entstanden. Diese Methoden wurden des weiteren um Verfahren zur Schätzung von unbekannten oder veränderlichen Systemparametern erweitert. Während der Projektlaufzeit sind diese Ansätze anhand eines variablen Aufbaumassenparameters des Fahrwerks untersucht worden. Der übergeordnete Fahrwerkregler verfolgt nun die Idee, die Wunschkraft zwischen Aufbau und Rad anhand eines Referenzmodells zu bestimmen, welches zu jedem Zeitpunkt für den momentanen Fahrzustand optimal parametriert ist und damit eine Adaption an die momentane Fahrsituation erlaubt. Dies geschieht auf Basis eines passiven, aber zeitvarianten Referenzmodells. Der Vorteil des passiven Referenzmodells liegt dabei darin begründet, dass zum einen ein breiter Erfahrungsschatz zur Auslegung passiver Fahrwerke existiert und sich zum anderen mit Hilfe der Direkten Methode von Ljapunow und der Systemenergie als Ljapunow-Funktion die Stabilität des Referenzmodells analytisch zeigen lässt. Darüber hinaus konnten günstige Robustheitseigenschaften gegenüber Parametervariationen für das referenzmodellbasierte Regelungskonzept gezeigt werden. Hervorzuheben ist, dass die entwickelten regelungstechnischen Ansätze nicht nur in der Simulation entworfen und untersucht, sondern desweiteren auch am institutseigenen Viertelfahrzeugprüfstand mit entsprechender Fahrwerkskonfiguration implementiert, validiert und optimiert worden sind. Dabei konnte die Überlegenheit der entwickelten Verfahren gegenüber herkömmlichen, in der Industrie eingesetzten Konzepten gezeigt werden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- „Experimental validation of a new adaptive control approach for a hybrid suspension system“, In: Proc. of the 2011 American Control Conference, 2011
G. Koch, S. Spirk, E. Pellegrini, N. Pletschen, B. Lohmann
- „Application of a modelbased two-DOF control structure for enhanced force tracking in a semi-active vehicle suspension“, In: Proc. of the 2012 IEEE Multi-Conf. on Systems and Control, 2012
E. Pellegrini, N. Pletschen, S. Spirk, M. Rainer, B. Lohmann
- „Experimental validation of a new model-based control strategy for a semi-active suspension system“, In: Proc. of the 2012 American Control Conference, 2012
E. Pellegrini, S. Spirk, N. Pletschen, B. Lohmann
- „Hybrid suspension concept with a driving state adaptive control approach“, In: ATZ worldwide, vol. 114, no. 12, pp. 58–65, 2012
G. Koch, S. Spirk, N. Pletschen, B. Lohmann
- „Hybrides Fahrwerkskonzept mit fahrzustandsadaptiver Regelung“, In: ATZ - Automobiltechnische Zeitschrift, vol. 114, no. 12, pp. 1012–1019, 2012
G. Koch, S. Spirk, N. Pletschen, B. Lohmann
- „Frequency-selective adaptive control of a hybrid suspension system“, In: Proc. of the 7th IFAC Symp. on Advances in Automotive Control, 2013
N. Pletschen, S. Spirk, B. Lohmann
- „Nonlinear state estimation in suspension control based on Takagi-Sugeno model“, In: Proc. of the 19th IFAC World Congress, 2014. – [Honourable Mention als einer von fünf Finalbeiträgen für den Young Author Award]
N. Pletschen, P. Badur