Die Geschichte des "positiv-historischen" (,konservativen') Judentums in Deutschland (1844-1912/13)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das ,positiv-historische', ,mittlere' Judentum bezeichnet neben Neuorthodoxie und Reformbewegung eine dritte religiöse Strömung, die die religiöse Modernisierung und Pluralisierung des Judentums in Deutschland seit dem Vormärz mit prägte und vorantrieb. Seit den 1830er-Jahren und bis 1930 trat diese bisher in der deutsch-jüdischen Historiografie weitgehend übersehene religiöse Richtung mit eigenen Organisationen, Zeitschriften und Institutionen in Erscheinung. Ihre größte Verbreitung und ihren zentralen Aktionsraum fand sie in den östlichen preußischen Provinzen (Schlesien. Posen, West- und Ostpreußen) mit Hochburgen in Berlin. Breslau und Königsberg, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt auch in jüdischen Gemeinden westlich der Elbe (Hannover, Köln. Stuttgart, München). Die Studie fasst das ,positiv-historische' Judentum als Bewegung, Richtung und Identität auf und verfolgt seine Entstehung, Entwicklung und Verbreitung überregional und regional in 78 jüdischen Gemeinden in den Grenzen des Deutschen Reichs (ohne Elsass-Lothringen). Aufgrund der Herkunft und des zentralen Aktionsraumes der Mehrheit seiner Vertreter und Träger lässt sich das ,positiv-historische' Judentum als eine wesentlich vom ostmitteleuropäischen Kulturraum geprägte Modernisierungsversion des deutschen Judentums verstehen. Soziologisch war das ,positiv-historische' Judentum eine vom Mittelstand, besonders von Akademikern und Freiberuflern getragene urbane, oft großstädtische Bewegung, die undogmatisch, aber an einen Wertekanon gebunden, jüdische Eigenart bewahren wollte. Das ,positiv-historische', ,mittlere' Judentum betonte die hebräische Sprache als zentralen Ausdruck jüdischer Identität, bekannte sich zum Offenbarungsglauben und zur Autorität der Tradition, aber auch zu moderner Wissenschaft und einer ,organischen' Entwicklung. Es orientierte sich am gesamtjüdischen Zusammenhang, ohne das Dogma vom Zusammenklang von Deutschtum und Judentum in Frage zu stellen. Religiös strebte die ,mittlere' Richtung einen Ausgleich zwischen liberalen und orthodoxen Interessen an, indem sie anfänglich und in größeren Gemeinden parallele gottesdienstliche Strukturen förderte, vor allem aber auf ein Kompromissmodell setzte, das trotz liberaler Elemente den traditionellen hebräischen Kern der Liturgie bewahrte. Gemeindepolitisch positionierte sich die ,mittlere' Strömung als Oppositionsbewegung gegen die liberale Dominanz in den Verwaltungen vieler jüdischer Gemeinden. Hier forderte sie u. a. eine Stärkung des Hebräischunterrichts, der Sabbatfeier am Sonnabend sowie die Förderung der Wissenschaft des Judentums. Obwohl man sich teilweise auch Forderungen nach einer Demokratisierung des Gemeindewahlrechts anschloss und ein mehr oder weniger vages national-religiöses Selbstverständnis entwickelte, blieb die ,mittlere' Richtung solchen Kräften fern, die ihr inhaltlich nahe standen - etwa die „Jüdische Volkspartei", aber mit dezidiert demokratischen Forderungen und klarem national-jüdischem (Minderheiten-)Selbstverständnis auftraten, sodass die ,mittlere' Richtung schließlich nach 1930 in der Bedeutungslosigkeit versank.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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"'Positive-Historical' or 'Centrist' Judaism (1844-1926/30) in Germany as a Religious and Political Movement". Konferenz in Oxford, 22.-25. Juli 2013: The Jewish-Theological Seminary of Breslau, the "Science of Judaism" and the Development of a Conservative Movement in Germany, Europe, and the United States (1854-1933)
Margit Schad