Platons Konzeption des Dialogs: Der Phaidros und das Programm einer dialektischen Kunst als Überwindung des Gegensatzes von Philosophie und Rhetorik.
Zusammenfassung der Projektergebnisse
In der platonischen Dialogschriftstellerei werden kardinale Themen der Philosophie unter den Bedingungen der interindividuellen Kommunikation entfaltet. Sachliche, situativ-kontextuelle und persönliche Dimension der jeweils ausgetauschten Argumente verweisen dabei auf den Umstand, dass Platon das Philosophische selbst aus lebensweltlichen Relevanzzusammenhängen hervorgehen lässt. Die Methoden und Praktiken der Auseinandersetzung, die ausgetauschten Argumente und die gewonnenen Einsichten der Gespräche sind dabei zunächst nur in der spezifischen Form des jeweiligen Dialogs verfügbar. Sie sind daher nicht gegeben, sondern müssen durch eine angemessene Dialoghermeneutik in ihrer Geformtheit erschlossen werden. Der Zusammenhang zwischen dem alltäglichen Ausgangspunkt des Miteinander- Redens (dialegesthai), der philosophischen Kultivierung und Disziplinierung des Gesprächs durch die Dialektik und der gewählten schriftstellerischen Form des Dialogs ist für ein Verständnis des Werks Platons konstitutiv. Dieser Befund legt eine kommunikationsphilosophische und mitteilungsorientierte Ausgangsperspektive im Umgang mit Platon nahe. Im Phaidros wird der Mitteilungscharakter des philosophischen Wissens als solcher zum Thema: Er ist ein Dialog über den Dialog. In ihm werden nicht nur die Rahmenbedingungen für ein gleichermaßen schönes und wahres Reden detailliert und kompositorisch aufwändig exponiert, sondern auch theoretisch eingeholt. Die Figuration des Dialogs ist als konstitutives Formmoment dabei so inszeniert, dass von ihr aus der Zusammenhang zwischen einer verbindlichen Kommunikationssituation und einer entsprechend angemessenen Sacherörterung am Beispiel der Liebe als wechselseitiger Fundierungszusammenhang sichtbar wird. Das so gewonnene Verständnis der Dialektik ist zugleich mit einer im Werk Platon neuen Rehabilitation rhetorischer Kompetenzen verbunden. Der Entwurf einer zugleich sachgerechten wie situations- und adressatenadäquaten Dialektik integriert nicht nur die genuin rhetorischen Praktiken der Antilogike, der Kairologie und der Psychagogie in die philosophische Praxis, sondern versucht das Wesen des philosophischen Wissens selbst von der interindividuellen Mitteilungssituation her zu bestimmen. Ausgehend vom dialogisch gewonnenen Reflexionswissen werden somit einerseits dogmatische Wissensansprüche im Sinn eines exklusiven Wissens metaphysischer Gegenstände insgesamt delegitimiert. Andererseits interpretiert Platon die zeitgenössische medientechnologische Debatte um den Übergang von der Oralität zur Literalität dergestalt um: Er spielt Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht gegeneinander aus, sondern nutzt ihre jeweiligen Eigentümlichkeiten zur kritischen Auseinandersetzung über die Grenzen und Möglichkeiten eines philosophischen Wissenstransfers überhaupt.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Die „Idee" und das „Sein" der „Wahrheit". Das Höhlengleichnis und Heideggers Platondeutung (ins Lettische übersetzt von Linda Gedina: „Idea" un „patiesibas" „esamiba". Heidegera skatijums uz Platonu). In: FILOSOFIA 6. Riga 2007. S. 24-40
Enrico Müller
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Rezension zu Ullrich Villers: Das Paradigma des Alphabets. Platon und die Schriftbedingtheit der Philosophie. Würzburg 2005. In: Gnomon (2007). S. 485- 488
Enrico Müller
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Diálogo critico de Nietzsche con Platon. In: Estudios Nietzsche 11 (2011). S. 67-83
Enrico Müller
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Eros, Logos, Graphe: Neuerscheinungen zu Nietzsche und Platon. In: Nietzsche-Studien 40 (2011). S. 352-360
Enrico Müller
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Alogia und die Formen des Unbewussten. Euripides - Sokrates - Nietzsche. In: Jutta Georg, Claus Zittel (Hgg.): Nietzsches Philosophie des Unbewussten. Berlin, Boston 2012. S. 11-30
Enrico Müller
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O antiplatonismo platonico de Nietzsche. In: ArteFilosofia. Brazilian Journal of Philosophy, Music and Theater. Ouro Preto: Universidade Federal de Ouro Preto 2013. S. 41-57
Enrico Müller
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Sokratisches Begehren und Platonische Liebe. Die polyphone Inszenierung des Erotischen. S: 17-46, in: Christof Hamann und Filippo Smerilli (Hgg.): Sprachen der Liebe in Literatur, Film und Musik: von Platons Symposion bis zu zeitgenössischen TV-Serien. Würzburg : Königshausen & Neumann, 2015 (Konnex: Studien im Schnittbereich von Literatur, Kultur und Natur, 8). - 978-3-8260-5477-8
Enrico Müller
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Raum und Rede. Zum Verhältnis von Topographie und Thema in Platons Phaidros. S. 15-32. In: Jekaterina Poljakowa; Andrea Bertino (Hgg.): Zur Philosophie der Orientierung. Werner Stegmaier zum 70. Geburtstag. Berlin, Boston, de Gruyter, 2016
Enrico Müller