Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der historisch-kritischen Koran- und Islamforschung: Ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Wissenschaftsgeschichte.
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Der Koran ist noch immer nicht Teil des europäischen Wissenskanons, obwohl er tief in der biblischen und nachbiblischen Tradition verwurzelt ist, wie in zahlreichen Forschungen aus der Stoßrichtung der Wissenschaft des Judentums hinreichend bewiesen wurde. Er gilt weiterhin noch als exklusiv islamischer Text - eine Einschätzung, der zumindest in wissenschaftlicher Perspektive vehement widersprochen werden muss. Die kritische Bewertung seiner Beziehung zur Bibel und damit zur europäischen Tradition setzt seine Einbettung in die - auch für das spätere Europa formative - spätantike Kultur voraus, in die er sich innovativ einbrachte. Die großen Fragen der Zeit wurden - in einem gemeinsamen epistemischen Raum - nicht nur von Rabbinen und Kirchenvätern, sondern auch von der koranischen Gemeinde debattiert -, ihre besonderen Antworten verdienen daher als Beiträge zu einer neuen, sich intensiv in die laufenden Religionsdebatten einbringenden Theologie Beachtung. Diese Beachtung hat der Koran bisher jedoch nur in den Werken der „Wissenschaft des Judentums" gefunden, die den Koran der Bibel auf gleicher Augenhöhe an die Seite stellten. Es gilt daher den Koran in ihrer Tradition zu erforschen. Die sich dabei abzeichnende Fokussierung des gesprochenen Wortes als der maßgeblichen Manifestation Gottes in der Welt kann nicht außerhalb des besonderen kulturellen Umfeld gesehen werden, in dem lokale Dichtung der arabischen Hochsprache bereits eine besondere Aura verliehen hatte. Der neue Blick auf den Koran, den es ernst zu nehmen gilt, erfordert jedoch gleichzeitig eine kritische Neureflektion unserer modernen Philologien, eine Neureflektion, die auf die Erträge der „Wissenschaft des Judentums" in seiner hundertjährigen Geschichte nicht verzichten kann. Der Blick muss frei werden für die Textpolitik des Koran, die den Prozess der Islamentstehung am ehesten erkennbar macht. Um dies zu gewährleisten gilt es, einen methodischen Vorsprung aufzuholen: Koranforschung muss endlich mit demselben methodischen Aufwand betrieben werden wie die Erforschung der Bibel. Während die Erforschung der Bibel auf Jahrhunderte lange Erfahrung zurückblicken kann, steckt die Koranforschung noch weitestgehend in den Kinderschuhen, da man sich irritierend schnell über den Verlust der jüdischen Koranforschung (zu nennen hier wohl insbesondere Rudi Paret (1901-1983), „der" deutsche Koranforscher in Nachkriegsdeutschland) hinwegtröstete, die spätestens seit dem Inkrafttreten des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" (1933) von deutschen Universitäten vertrieben wurden. War Abraham Geiger noch an einer „wahren Wissenschaftlichkeit" interessiert und den Koran als Nacherzählung biblischer Erzählungen mit Färbung durch die rabbinische Exegese erkannte, wurde die Thematik mehr und mehr ein Politikum - und sie ist es auch heute noch. Aber erst wenn die hundertjährige „große" Tradition jüdischer Koranforschung in angemessener Weise aufgearbeitet ist, können in einem nächsten Schritt die Ergebnisse dieser Forschungsrichtung in die gegenwärtig geführte Debatte um den Koran eingeführt werden. Nur in dieser wissenschaftsgeschichtlichen Einbettung, die auf die „Wissenschaft des Judentums" nicht verzichten sollte, kann der Koran in seinen Bezugsrahmen gesetzt werden. Erst dann kann der Koran dem interessierten Leser als auch dem gläubigen Muslim endlich zugänglich gemacht werden und sich zugleich als die intellektuelle Herausforderung erweisen, die er bei seiner Verkündung im frühen siebten Jahrhundert war. Dazu hat das Projekt ausgezeichnete Arbeit geleistet.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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„Eine ,europäische Lektüre des Koran' - Koranwissenschaft in der Tradition der Wissenschaft des Judentums", in: Simon Dubnow Institute Yearbook ( = DIYB) 7.(2008), S. 261-283
Angelika Neuwirth
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„In vollem Licht der Geschichte" - Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der kritischen Koranforschung, Würzburg 2008
Angelika Neuwirth (mit Dirk Hartwig, Walter Homolka, Michael J. Marx)
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"Eine 'europäische Lektüre des Koran' - Koranwissenschaft in der Tradition der Wissenschaft des Judentums", in: Europa im Nahen Osten - Der Nahe Osten in Europa, hrsg. von Angelika Neuwirth und Günther Stock, Berlin: Akademie-Verlag 2010, S. 107-129
Angelika Neuwirth
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Europa im Nahen Osten - Der Nahe Osten in Europa [Ein gemeinsames Forschungsprogramm des Wissenschaftskollegs zu Berlin, der Fritz Thyssen Stiftung und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften], Berlin: Akademie Verlag 2010
Angelika Neuwirth (mit Günter Stock)
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Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010, reprint 2011
Angelika Neuwirth
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Der Koran. Bd. 1: Poetische Prophetie. Frühmekkanischen Suren, Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2011
Angelika Neuwirth
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The Qur'an in Context: Literary and Historical Investigations into the Millieu of the Qur'an, Leiden 2009, reprint (paperback) 2011
Angelika Neuwirth (mit Nicolai Sinai, Michael Marx)
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„Der Qur'an - islamisches Erbe und spätantikes Vermächtnis an Europa", in: Mouhanad Khorchide & Klaus von Stosch (Hrsg.): Herausforderungen an die islamische Theologie in Europa/Challenges for Islamic Theology in Europe, Freiburg: Herder 2012, S. 31-49
Angelika Neuwirth
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"The Qur'an in the Field of Conflict Between the Interpretative Communities," in: Ulrike Auga [et al.] (eds.). Fundamentalism and Gender: Scripture-Body-Community, Eugene: Pickwick Publications, 2013, pp. 109-128
Angelika Neuwirth
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„Muslime auf Augenhöhe. Ein Forschungsprojekt sucht nach der europäischen Dimension des Koran", in: Glanzlichter der Wissenschaft. Ein Almanach, herausgegeben vom Deutschen Hochschulverband, Stuttgart: Lucius & Lucius 2013, S.93-102
Angelika Neuwirth
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Koranforschung - eine politische Philologie? Bibel, Koran und Islamentstehung im Spiegel spätantiker Textpolitik und moderner Philologie, [Litterae et Theologia], Bd. 4, Berlin & New York: deGruyter, 2014. XVIII, mind. 117 S. - 978-3-11-033491-3
Angelika Neuwirth