Kindspflegschaften im Kontext ethnischer Heterogenität (Borgu/ Republik Benin)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Ausgangspunkt des Projektes war die Frage nach normativen Vorstellungen und sozialer Praxis der Kindspflegschaft sowie deren Wandel in drei ethnischen Gemeinschaften (Fulbe, Gando, Fée) vor dem Hintergrund der interethnischen Beziehungen in der Borgu-Region (Nordbenin). Zur Beantwortung wurden qualitative und quantifizierende Daten bei Angehörigen der jeweiligen ethnischen Gemeinschaft, an unterschiedlichen Erhebungsstandorten im ländlichen Raum und in einer Stadt, erhoben. Thematische und biographische Interviews mit Personen unterschiedlichen Alters und Geschlechts, zwei Fragebogenuntersuchungen und eine Schülerbefragung zeigten, dass Kindspflegschaft, wie bei den Fée, auch bei Fulbe und Gando eine bekannte und anerkannte soziale Praxis darstellt. Jedoch zeigen sich zwischen und innerhalb der Untersuchungsgruppen in Bezug auf Häufigkeiten, Formen und Bedeutungen der Kindspflegschaft teilweise Unterschiede. Dies gilt ebenso für den ländlichen Raum wie für die Stadt. Bei den Fulbe überraschten große intraethnische Unterschiede zwischen den ländlichen Erhebungsregionen: die teilnomadisch lebenden, agro-pastoralen und muslimischen Fulbe der Erhebungsregion 1 leben deutlich seltener und andere Formen der Kindspflegschaft als die sesshaften, von nicht-pastoralen Aktivitäten lebenden christlichen Fulbe der Erhebungsregion 2. Auch zwischen Gando-Dörfern lassen sich deutliche Differenzen bezüglich der Häufigkeiten von Pflegschaftsarrangements erkennen. Wichtiges Ergebnis ist, dass die jeweiligen Praktiken der Kindspflegschaft kein Ausdruck spezifischer Kulturmerkmale ethnischer Gruppen sind, sondern dass sie in jeweils spezifische soziale und historische Kontexte eingebettet sind, die auch regional variieren können. Makrogesellschaftliche Theorien wie die von Goody (1982) zum Zusammenhang von staatlicher Zentralität, Arbeitsteilung und Pflegschaftspraxis können die Variationsbreite des Phänomens und den Wandel seiner Formen nicht hinreichend erklären. Eine projektleitende These war, dass Normen und Praktiken der Kindspflegschaft auch im Zusammenhang mit ethnischen Identitätsdiskursen stehen. Dies hat sich insbesondere im Hinblick auf agro-pastorale Fulbe im ländlichen Raum bestätigt. Pflegschaftspraktiken werden hier auch zur Markierung und Aufrechterhaltung ethnischer Grenzen verwendet. Weiterhin zeigte sich, dass verschiedene Formen interethnischer Kindspflegschaften bei den Untersuchungsgruppen existieren, dass diese jedoch ebenfalls in ihrer jeweiligen historischen und sozialen Einbettung zu sehen sind. Fallanalysen von interethnischen Pflegschaftsarrangements sogenannter Unglück verheißender Kinder (yonobu) und biographische Interviews mit solchen zeigen, dass ethnische Zugehörigkeit hier ein langfristiges Aushandlungsfeld zwischen den an den Pflegschaftsarrangements Beteiligten ist. Eine Untersuchung des Handelns und der Erfahrungen von (Fée-)Pflegekindern mit Hilfe von biographischen Interviews und Fallanalysen ergab: Pflegekinder machen unterschiedliche Erfahrungen, sie sind aktiv an den Aushandlungen um ihre Zugehörigkeit beteiligt und nutzen dabei das kulturelle Schema der Kindspflegschaft teilweise selbst zur Umsetzung eigener Ziele. Eine vergleichende Analyse von 29 lebensgeschichtlichen Darstelllungen aktueller bzw. ehemaliger Pflegekinder zeigte, dass normative Vorstellungen zum Charakter der patrilinearen und matrilinearen Verwandtschaftsbeziehungen von Bedeutung für die Pflegschaftserfahrungen der Kinder sind. Die Beziehungen zu Pflegeeltern aus der matrilinearen Verwandtschaft beschreiben Pflegekinder häufig als von Solidarität getragen und harmonisch, Beziehungen zu Pflegeeltern aus der patrilinearen Verwandtschaft hingegen häufig als autoritär und konfliktträchtig. Die Analyse von Interviews mit (Fée-)Männern in ihren Rollen als Pflege- und leibliche Väter sowie die Fallanalysen von Jungenpflegschaften ergaben, dass sich die Handlungslogiken von auf dem Land lebenden Männern von in der Stadt lebenden teilweise unterscheiden. Männer im bäuerlichen Milieu haben oft ein Interesse an Söhnen ihrer Geschwister, um diese in die Feldbauaktivitäten des eigenen Haushaltes zu integrieren. Männliche Städter übernehmen Elternrollen vor allem im Rahmen von Schulpflegschaften. Zudem sind die Pflegschaftspraktiken von Männern vor dem Hintergrund unterschiedlicher normativer Vorstellungen von Elternschaft und Männlichkeitsbildern (masculinities) zu sehen, wie auch im Kontext ihrer individuellen Lebenssituation und langfristigen Lebensplanung. Zusätzliche Erhebungen in Form teilnehmender Beobachtungen in einem Waisenheim zeigten, dass die Zugehörigkeit von Kindern auch bei dieser historisch neueren Form institutionalisierter Kindspflegschaft ein umkämpftes Terrain ist. In ihrem Handeln beziehen sich die Akteure auf unterschiedliche Normen in Bezug auf Kindheit, Kindeswohl und die Fremdüberlassung von Kindern.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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2012. Children’s work, child fostering and the spread of formal schooling in Northern Benin. In: Gerd Spittler und Michael Bourdillon (Hg.): Working and Learning among Africa’s Children. Lit Verlag: Hamburg, Münster, Berlin, 195-226
Jeannett Martin
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2012. Verwandtschaft in Afrika: Transformationsprozesse im 20. Jahrhundert. In: Thomas Bierschenk und Eva Spies (Hg.): 50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika. Kontinuitäten, Brüche, Perspektiven. Rüdiger Köppe Verlag: Köln, 141-170
Jeannett Martin (mit Erdmute Alber und Tabea Häberlein)
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2013. Child fostering in West Africa. New Perspectives on Theories and Practices. Brill: Leiden, Boston, Tokyo
Jeannett Martin (mit Erdmute Alber and Catrien Notermans) (eds.)
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2013. Experiencing father’s kin and mother’s kin: kinship norms and practices from the perspective of foster children in Northern Benin. In: Erdmute Alber, Jeannett Martin und Catrien Notermans (Hg.): Child fostering in West Africa. New Perspectives on Theories and Practices. Brill: Leiden, Boston, Tokyo, 111-134
Jeannett Martin
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2013. Ziele, Handeln und Agency von Kindern im Kontext der Pflegschaftspraxis in Nordbenin. In: Sociologus – Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie, 62 (2), 171-197
Jeannett Martin
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2015. Familie in Afrika. Kapitel 6 in: Paul B. Hill, Johannes Kopp (Hg.): Handbuch Familiensoziologie: Springer VS, 147-178
Jeannett Martin (mit Erdmute Alber)