Die (übersehene) Rolle von Hinweisreizen und Abrufprozessen bei der Aufhebung intentionalen und nicht intentionalen episodischen Vergessens
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Seit Ende der 60-er Jahre zeigt eine Fülle von experimentellen Befunden, dass sowohl die Vorgabe einer Teilmenge gelernten Materials Hinweisreize (part-list cuing) als auch der unmittelbar vorangehende eigenständige Abruf dieses Materials (part-list retrieval) das Erinnern der restlichen Items typischerweise erschwert. Die Befunde dieses Projekts replizieren diesen Befund in jedem einzelnen durchgeführten Experiment. Sie zeigen jedoch auch, dass dieser Hemmungseffekt nicht allgemeiner Natur ist, sondern nur dann aufzutreten scheint, wenn das zu erinnernde Material relativ frisch enkodiert ist und zudem eine hohe Überlappung von Lern- und Testkontext vorliegt. Liegen derartige Bedingungen nicht vor - wie etwa beim gerichteten Vergessen nach der Listenmethode, beim kontextabhängigen Vergessen oder beim normalen (zeitabhängigen) Vergessen -, so kann sich ein entgegengesetztes Ergebnismuster zeigen und sowohl part-list cuing als auch part-list retrieval können das Erinnern der restlichen Items verbessern. Theoretisch legen die Befunde nahe, dass sowohl selektiver Abruf als auch Hinweisreize zwei unterschiedliche Prozesse aktivieren können: die Inhibition interferierenden Materials, einhergehend mit einem reduzierten Erinnern der noch abzurufenden Items, sowie die Reaktivierung des ursprünglichen Lernkontexts, einhergehend mit einem verbesserten Erinnern der noch abzurufenden Items. Dabei scheint der eine Prozess (Inhibition) immer dann aktiv zu sein, wenn der ursprüngliche Lernkontext (noch) aktiviert und das Interferenzpotential der restlichen Items hoch ist, während der andere Prozess (Kontextreaktivierung) immer dann aktiv zu sein scheint, wenn der Zugriff auf den ursprünglichen Lernkontext reduziert ist. Je nachdem, welcher der beiden Prozesse in einer experimentellen Situation dominiert, können sich dann unterschiedliche Dynamiken beim Gedächtnisabruf zeigen. Die Ergebnisse des Projekts dürften zu einer Neubewertung der Effekte von Hinweisreizen sowie selektiven Abrufs führen und so unser Verständnis episodischen Erinnerns und Vergessens verändern. Die Ergebnisse sind darüber hinaus von praktischer Bedeutung. Seit vielen Jahren werden etwa Zeugen mit Methoden interviewt, die kritisch auf der Annahme beruhen, dass Hinweisreize und selektive Abrufprozesse förderlich sind für das Erinnern weiteren Materials. Während die Gültigkeit dieser Annahme durch die Befunde zu den negativen Effekten von Hinweisreizen und Abrufprozessen in vielfältiger Weise in Frage gestellt worden war, liefern die Ergebnisse dieses Projekts eine post hoc Rechtfertigung der Methoden solcher Interviews.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2010). The two faces of memory retrieval. Psychological Science, 21, 793-795
Bäuml, K.-H. T. & Samenieh, A.
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(2012). Dissociating the two faces of selective memory retrieval. Memory, 20, 478-486
Dobler, I.-M. & Bäuml, K.-H. T.
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(2012). Influences of part-list cuing on different forms of episodic forgetting. Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, & Cognition, 38, 366-375
Bäuml, K.-H. T. & Samenieh, A.
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(2012). Selective memory retrieval can impair and improve retrieval of other memories. Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, & Cognition, 38, 488-494
Bäuml, K.-H. T. & Samenieh, A.