Lernorientierungen diesseits und jenseits des Bildungsprozesses: Der biographisch kontextuierte Aufbau von Wissen und Können
Final Report Abstract
In dem Projekt wurden Bildungs- und Lernprozesse anhand von 50 biographisch-narrativen Interviews mit Hilfe der dokumentarischen Methode empirisch rekonstruiert. Dazu wurde – theoretisch – Bildung als Habitustransformation definiert, d.h. als eine Transformation von Selbst- und Weltreferenzen in ihrer Totalität. Demgegenüber wurde Lernen als Zuwachs und Transformation von Wissen und Können gedeutet, das auf spezifische Gegenstände – und damit auf Weltausschnitte – bezogen ist. Die Art und Weise des Lernens wurde mit den Begriffen Lernhabit und Lernorientierung gefasst, wobei erstere auf situationsüberdauernde Modi der Herangehensweise an potentielle Lerngegenstände und -anlässe verweisen, während letztere anzeigen, wie die Akteure ihr bisheriges Wissen mit (potentiellem) neuem Wissen relationieren. Es ließen sich in einer sinngenetischen Typenbildung fünf verschiedene Lernhabits ausmachen: Aktionismus und Exploration als Lernhabits, die das Zufällige in den Fokus rücken; strukturierter Wissenserwerb als ein durch Planung und Organisation geprägter Lernhabit; Protektion und Suspendierung als die das Umlernen vermeidenden Lernhabits. Des Weiteren wurden sieben verschiedene Lernorientierungen identifiziert: Kontrastierung als Gegenüberstellung von Fremdem und Eigenem; Inkorporierung als die wiederholte Anwendung des Neuen, womit das Neue einverleibt wird; Inversion als Lernorientierung, in der das Neue dem Alten diametral gegenübersteht; Tradierung als Anknüpfen an bisheriges Wissen und Können; Kausalisierung als das Zurückführen auf ein einheitliches (Kausal-)Prinzip; Segmentierung als episodenhaftes Einlassen auf immer wieder neue Erfahrungshorizonte; Konnexion als die Verknüpfung von unterschiedlichen Erfahrungs- und Wissenshorizonten. Die Bildungsprozesse wurden in einer prozessanalytischen Typenbildung in fünf Phasen differenziert. In der Phase des nichtdeterminierenden Beginns wird das Neue erstmals in die Lebenspraxis eingeführt, d.h. es kommen neue Handlungspraktiken hinzu, die aber zunächst marginal bleiben. In der Phase der experimentellen, ungerichteten Erkundung üben sich die Akteure in die neue Praxis allmählich und auf explorative Weise ein. Erst in der Phase der sozialen Bewährung und Spiegelung beginnen die untersuchten Personen, das Neue im Lichte der Reaktion anderer Menschen einzuschätzen und zu bewerten. Unter Umständen hat dieses Neue bereits seit der ersten Bildungsphase eine hohe (wenngleich implizit bleibende) Relevanz in der Handlungspraxis gehabt. Spätestens in der Phase der Relevanzverschiebung aber tritt das Neue in das Zentrum der Lebenspraxis. Diese Fokussierung des Neuen wird dadurch möglich, dass bisher gegebene, alte Handlungspraktiken durch eine Krise zu einem Ende kommen und damit an Orientierungsrelevanz verlieren. Der Bildungsprozess kulminiert dann in einer Phase der sozialen Festigung und Reinterpretation der Biographie. Hiermit wird die Transformation des Habitus abgeschlossen. In einem weiteren Schritt widmete sich die Untersuchung der Frage, welche Lernhabits und -orientierungen Bildungsprozesse einleiten oder bestärken und welche sie ver- oder behindern. Hierzu wurden in einer relationalen Typenbildung sowohl drei Zusammenhänge von Lernhabits und -orientierungen identifiziert, die zu Bildungsprozessen führen, als auch drei Relationen, bei denen die Akteure in einem Lernprozess verbleiben. Zudem ließen sich auch Lernhabits und -orientierungen identifizieren, die der Konsolidierung eines Bildungsprozesses dienen. Die in dem Projekt herangezogenen bzw. neu entwickelten Grundbegriffe – Habitustransformation, (Lern-) Habit und (Lern-) Orientierung – ließen sich schließlich so mit den empirischen Analysen verbinden, dass Konturen einer praxeologisch fundierten und empirisch gegründeten Bildungs- und Lerntheorie deutlich wurden.
Publications
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