Lehrerurteile im Lebensverlauf
Final Report Abstract
In dem Projekt wurde der Hintergrund von Lehrerurteilen, die auf die Eignung von 15‐jährigen Gymnasiasten zielen, sowie deren prognostische Qualität und der Einfluss, den mögliche Fehlurteile in Form von Self‐fulfilling Prophecies auf den weiteren Lebensverlauf haben können, in einem Längsschnitt ehemaliger nordrhein‐westfälischer Gymnasiasten zwischen 15 und 43 Jahren untersucht. In einer auf meritokratischen Prinzipien basierenden Gesellschaft haben Lehrerurteile eine zentrale Weichenstellungsfunktion. Sie eröffnen oder versperren in Form von Zeugnissen, Schulnoten oder generalisierenden Beurteilungen Zugänge zu bestimmten Pfaden des Ausbildungs‐ und Berufsverlaufes und beeinflussen damit den beruflichen Lebenserfolg. Die daraus resultierende gesellschaftliche Ungleichheit erscheint solange legitim, wie die Beurteilungen auf der individuellen Leistungsfähigkeit und den Leistungen beruhen. Das Projekt hat gezeigt, dass Leistungen und Leistungsfähigkeit tatsächlich während des gesamten Ausbildungs‐ und Berufsverlaufes eine bedeutsame Rolle spielen. Vor allem die Noten, aber auch die Intelligenz bilden wichtige Grundlagen des Lehrerurteils. Neben phasenspezifischen Leistungsindikatoren (wie z.B. der Erfolg im Studium) scheinen die Noten – aggregiert zum Notendurchschnitts – auch losgelöst von der Situation der Schule langfristig ein guter Indikator für Leistungsfähigkeit und Leistungswillen zu sein, wie die Effekte auf Abitur, Studieneintritt, Studienerfolg und den Berufserfolg mit 43 Jahren belegen. Aber schon die kognitive Leistungsfähigkeit (Intelligenz) und die Leistungen in der Schule (Noten) sind nicht unabhängig von der sozialen Herkunft, was als primärer Effekt der sozialen Herkunft bezeichnet werden kann. In der vorliegenden sozial selegierten Stichprobe wirkt der primäre Effekt vor allem indirekt über die durch den Analogietest gemessenen sprachlichen Fähigkeiten der Schüler. Hinzu kommt ein sekundärer Effekt der sozialen Herkunft, der sich vor allem über die Aspirationen auch auf die Lehrerurteile auswirkt. Einem meritokratischen Modell völlig fremd ist darüber hinaus ein nachgewiesener direkter Effekt der sozialen Herkunft auf das Lehrerurteil. Der muss nicht als bewusste Diskriminierung von Kindern aus unteren Schichten interpretiert werden. Er könnte vielmehr darauf hinweisen, dass die Lehrer in ihrem Urteil unabhängig von der individuellen Leistungsfähigkeit größere Schwierigkeiten von Schülern aus unteren Schichten im Studium antizipieren und bei ihrer Urteilsbildung aus (falsch verstandener) Fürsorge vom meritokratischen Prinzip abweichen. Eine weitere Abweichung vom meritokratischen Prinzip stellen Kontexteffekte des Leistungsniveaus der Klasse auf die Lehrerurteile dar. Der nachgewiesene Reflected‐Glory‐Effekt belegt, dass die Lehrer bei ihren Urteilen über einzelne Schüler das Leistungsniveau der Klasse als Maßstab heranziehen und dabei ihre Einschätzung der Klasse auch auf den einzelnen Schüler übertragen. Durch einen solchen Halo‐Effekt sind die Lehrerurteile kaum zwischen verschiedenen Klassen oder gar Schulen zu vergleichen. Gemessen an dem Kriterium Leistung invalide Lehrerurteile können über die Erfolgserwartungen der Schüler und ihrer Eltern die individuellen Bildungsentscheidungen beeinflussen. Dadurch wird dem Ausbildungs‐ und Berufsverlauf eine spezifische Richtung gegeben, die später nur noch schwer zu korrigieren ist und über den beruflichen Erfolg langfristig die spätere soziale Position beeinflusst. Solche Beurteilungen können unabhängig von der tatsächlichen Leistungsfähigkeit in Form einer Self‐Fulfilling Prophecy eine eigenständige Wirkung auf Entscheidungen und Entwicklung im Lebensverlauf nehmen. Die soziale Herkunft als ein meritokratiefremder Faktor verliert auch nach der Schule bei Kontrolle der Leistungen nicht an Einfluss auf den weiteren Ausbildungs‐ und Berufserfolg, ja ihr Einfluss scheint im Beruf wieder zuzunehmen. Während Erfolg in Schule und Studium stärker an formalisierte Leistungskriterien gebunden ist, so häufig das Leistungsprinzip auch durchbrochen sein mag, gelten im Beruf – zumindest auf höheren Positionsniveaus – offenbar andere, stärker auf der sozialen Herkunft und einem entsprechenden Habitus basierende Kriterien. Die Ergebnisse wurden und werden in Publikationen und Vorträgen der Fachöffentlichkeit präsentiert.