Elemente einer Theorie der Dynamik von Religionen
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Ziel des Projektes war die Erarbeitung von Elementen einer Theorie der Dynamik von Religionen als Grundlage für die systematische und empirische Erforschung religiöser Dynamik. Der entwickelte Ansatz verbindet Theorien verschiedener Provenienz. Erstens wird die Dynamik von Religionen als Sonderfall kultureller Dynamik verstanden und kulturelle Dynamik als Schlüsselfaktor kultureller Diversifizierung. In Analogie zu biologischer (genetischer) Diversifizierung lässt sich deshalb kulturelle Dynamik als Prozess kultureller Evolution begreifen und nach den Mechanismen fragen, die kulturelle Evolution steuern. Bei der Hypothesenbildung wird auf Begriffe der biologischen Evolutionstheorie zurückgegriffen: Vererbung, Modifikation, Selektion. Es wird die Bedeutung von Religion im Zusammenhang kultureller Vererbung bestimmt, wobei Religion nicht nur als Gegenstand kultureller Überlieferung behandelt wird, sondern vor allem Sakralisierung als wesentlicher Faktor für den Mechanismus kultureller Vererbung identifiziert wird. Da die kulturelle Semantik, die die Matrix der Koordination individuellen Verhaltens bildet, symbolisch repräsentiert wird, erfordert kulturelle Vererbung Mechanismen der Fixierung kultureller Codes. Formen der Sakralisierung symbolischer Repräsentationen erweisen sich dabei als evolutionär erfolgreich. Zweitens wird die Expansions- und Modifikationsdynamik von Religionen handlungs- und kommunikationstheoretisch gedeutet. Die Expansion von Religionen wird also nicht individualpsychologisch als eine Übernahme von Ideen (d.h., religiösem Glauben) verstanden, sondern als soziale Prozesse, in denen symbolische Repräsentationen kommuniziert und durch Gebrauch verbreitet werden. Im Unterschied zur Verbreitung von Merkmalen durch genetische Vererbung kann die Verbreitung kultureller Merkmale nicht nur vertikal durch kulturelle Vererbung, sondern auch horizontal innerhalb einer Generation erfolgen. In beiden Fällen wirken jedoch Faktoren der Selektion, die insbesondere die Verbreitung kultureller Innovationen beeinträchtigen. Als Faktoren negativer kultureller Selektion werden in erster Linie Machtverhältnisse und durch Sakralisierung stabilisierte Normen identifiziert. Nicht hinreichend geklärt sind bisher die Bedingungen positiver kultureller Selektion, die die Voraussetzung für die Verbreitung religiöser Modifikationen (Innovationen) ist. Es ist deutlich, dass religiöse Innovationen in der Regel durch soziale Sanktionen negativ selektiert werden; andererseits können religiöse Innovationen in einigen Fällen eine beträchtliche kulturelle Transformationsdynamik entfalten. Um die Bedingungen solcher Transformationsdynamik genauer zu klären, wurde im Zusammenhang mit dem Projekt im Jahr 2009 das Graduiertenkolleg „Religiöser Nonkonformismus und kulturelle Dynamik" an der Universität Leipzig eingerichtet.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- 2005. Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis - am Beispiel des chinesischen Buddhismus. In: Schalk, Peter (Hg.): Im Dickicht der Gebote. Studien zur Dialektik von Norm und Praxis in der Buddhismusgeschichte Asiens. Uppsaia. (Acta Universitatis Upsaliensis. Historia Religionum), 15-38
Seiwert, Hubert
- 2009. Post-durkheimianische Religion? Überlegungen zum Kontrast moderner und vormoderner Religion im Anschluss an Charles Taylor. In: Hase, Thomas, u.a. (Hg.): Mauss, Buddhismus, Devianz. Festschrift für Heinz Murmel zum 65. Geburtstag. Marburg: Diagonal, 99-114
Seiwert, Hubert
- 2009. Religion, Evolution und die Mechanismen kultureller Vererbung. In: Beck-Sickinger, Annette & Petzoldt, Matthias (Hg.): Paradigma Evolution: Grenzen und Chancen eines Erklärungsmusters. Frankfurt, M. Berlin Bern Bruxelles NewYork, NY Oxford Wien: Lang, 105-131
Seiwert, Hubert
- 2009. Religiöse Bewegungen im frühmodernen China: Eine prozesstheoretische Skizze. In: Hutter, Manfred (Hg.): Religionswissenschaft im Kontext der Asienwissenschaften: 99 Jahre religionswissenschaftliche Lehre und Forschung in Bonn. Berlin: Ut. (Religionen in der pluralen Welt, 8), 179-196
Seiwert, Hubert
- 2009. The transformation of popular religious movements of the Ming and Qing dynasties: A rational.choice interpretation. In: Clart, Philip & Crowe, Paul (Hg.): The people and the Dao: New studies in Chinese religions in honour of Daniel L Overmyer. Sankt Augustin: Inst. Monumenta Serica. (Monumenta Serica Monograph Series, 60), 39-62
Seiwert, Hubert