Ein exemplartheoretisches Modell zum Erwerb der akustischen Korrelate der Betonung
Final Report Abstract
Wie Kinder sprechen lernen, insbesondere wie sie das Lautinventar ihrer Muttersprache erwerben, ist bereits grüundlich erforscht worden. Doch wie sie lernen, die Betonungsmuster ihrer Muttersprache zu verstehen und selbst anzuwenden, darüber ist bisher wenig bekannt. Ob ich etwas UmFAHRE oder UMfahre, macht für Fahrzeug und Hindernis einen gewaltigen Unterschied. Die betonte Silbe kann vom Sprecher auf verschiedene Weise hervorgehoben werden, etwa durch Anheben der Stimme, größere Lautstärke, längere Dauer oder auch durch subtile Veränderungen der Stimmqualität. Typischerweise erfolgt die Betonung durch eine Kombination mehrerer dieser Mittel, wobei es durchaus Unterschiede von Sprache zu Sprache gibt. Kinder müssen die richtige Kombination in ihrer Muttersprache lernen. Das abgeschlossene Projekt untersuchte, wie Kinder in den Altersstufen von fünf Monaten bis acht Jahren lernen, Wort- und Silbenbetonungen in der Lautsprache wahrzunehmen und zu produzieren. In das Projekt einbezogen wurden zehn Familien aus der Region Stuttgart, in denen weitestgehend dialektfrei gesprochen wird. Dabei wurden die Kinder in einer longitudinalen Studie zu Hause beim Spiel mit Tierfigur-Paaren wie Eisbär BImo und Braunbär biMO beobachtet. So lässt sich nachvollziehen, in welchen Schritten die Kinder die Ausspracheunterschiede erlernen und ob sie dabei die gleiche Strategie anwenden wie ihre Eltern. Alle Sprachäußerungen wurden mit drahtlosen Mikrofonen digital aufgenommen später akustisch analysiert. Die Aufnahmetechnik ermöglichte die Qualität von Laboraufnahmen im Feldversuch. Die Aufnahmen fanden über einen Zeitraum von mehreren Jahren in regelmäßigen Abständen statt, so dass sich der Fortschritt beim Erwerb der Betonung genau dokumentieren ließ. Theoretischer Rahmen für die Studie ist die Exemplartheorie, die postuliert, dass im Lern- bzw. Spracherwerbsprozess phonetische und phonologische Kategorien über wahrgenommene Exemplare aufgebaut werden. Untersuchungen sowohl zur Erwachsenensprache als auch zum Spracherwerbsprozess legen die Annahme nahe, dass die im mentalen Lexikon zugrundeliegenden phonologischen Repr äsentationen nicht völlig abstrakt sind, sondern dass feine phonetische Details Teil der Repräsentation sind. Eine kritische Anzahl wahrgenommener Exemplare einer sprachlichen Kategorie ist die grundlegende Voraussetzung für die Produktion dieser Kategorie. Das impliziert, dass Kinder beim Erwerb einer Kategorie zunächst die wahrgenommenen Exemplare im Gedächtnis abspeichern, ohne sie zu produzieren. Sie produzieren also zunächst nicht alles, was sie perzipieren. Dieses Phänomen wird als mismatch oder lag zwischen Perzeption und Produktion bei Kindern bezeichnet. Der Mismatch zwischen Perzeption und Produktion im Spracherwerb lässt sich mit Hilfe eines exemplarbasierten Modells erklären. Neugeborene haben bereits geügend Input von ihren Eltern bekommen, um bestimmte Erwartungen an die prosodische Struktur ihrer nativen Sprache zu stellen. Sie bilden aufgrund ihrer Erfahrung mit einer Anzahl wahrgenommener Exemplare sprachspezifische Verteilungen interner Modelle aus und generalisieren, um so mittels der abgelegten internen Lautmuster Bedeutungen oder syntaktische Anforderungen einzelner Wörter aus dem sie umgebenden Sprachstrom extrahieren zu können. Die Ergebnisse des Projekts deuten darauf hin, dass die Kinder über die verschiedenen Phasen des Spracherwerbs hinweg mit den verschiedenen Korrelaten der Wortbetonung experimentieren: mit spektralen Parametern, prosodischen Eigenschaften und der Stimmqualität. Im Alter von 3–5 Jahren stabilisiert sich die Verwendung der Parameter allmählich, ist jedoch selbst mit 8 Jahren noch nicht abgeschlossen. Die Ergebnisse legen auch die Annahme nahe, dass sich die Kinder daran orientieren, welche Merkmale ihre Eltern in kindgerichteter Sprache verwenden. Über das Projekt wurde im Unikurier der Universität Stuttgart Nr. 95 vom Mai 2005 ([http://www.unistuttgart. de/uni-kurier/uk95/forschung/fw62.html]) und in einer Pressemitteilung Nr. 14/2005 der Universität Stuttgart vom 1.3.2005 ([http://www.uni-stuttgart.de/aktuelles/presse/2005/14.html]) berichtet.
Publications
-
Lintfert, B. and K. Schneider (2005): Acoustic correlates of contrastive stress in German children. In: Proceedings of Interspeech/Eurospeech 2005 (Lisbon), 1177-1180.
-
Schneider, K. and Lintfert, B. (2005): Acquisition of contrastive stress in German children. In: 10th International Congress for the Study of Child Language (IASCL, Berlin).
-
Lintfert, B. and B. Möbius (2006): From babbling to first words: Acoustic analysis of German infants and an exemplar-based model of acquisition. 5th Workshop of Phonological Development (Potsdam).
-
Lintfert, B. and K. Schneider (2006): Prosodic correlates of stress in babbling and first words: Acoustic analysis of German infants. 10th Conference on Laboratory Phonology (LabPhon10, Paris).
-
Schneider, K. and B. Möbius (2006): Production of word stress in German: Children and adults. In: Proceedings of Speech Prosody 2006 (Dresden), 333-336.
-
Schneider, K., B. Lintfert, and B. M¨obius (2006): Work in progress: Acquisition of contrastive stress in German children compared to the realizations of their parents. In: Latsis Colloquium 2006 (Geneva).
-
Lintfert, B. and U. Vollmer (2007): Acoustic analysis of stress in babbling and first words in German. Child Language Seminar (Reading, UK).
-
Schneider, K. (2007): Acquisition of word stress in German: Vowel duration and incompleteness of closure. Proceedings of the 16th International Congress of Phonetic Sciences (Saarbrücken), 1565-1568.
-
Schneider, K. and B. Möbius (2007): Word stress correlates in spontaneous child-directed speech on German. Proceedings of Interspeech 2007 (Antwerpen), 1394-1397.