Kohärenzbegriffe in der Ethik
Final Report Abstract
In diesem Forschungsprojekt wurden zwei Hauptziele verfolgt. Das erste Ziel bestand in der Analyse des in der Ethik verwendeten Kohärenzbegriffs. Das zweite Ziel bestand in der Untersuchung und Präzisierung des Überlegungsgleichgewichts als der gegenwärtig prominentesten kohärentistischen Rechtfertigungskonzeption in der Ethik. Diese Forschungsziele wurden durch die Tatsache motiviert, dass der Kohärenzbegriff sowohl in der theoretischen als auch in der praktischen Philosophie eine prominente Rolle spielt, dass aber in der theoretischen Philosophie wesentlich elaboriertere Präzisierungen des Kohärenzbegriffs vorliegen als in der Ethik. Deshalb wurde in diesem Projekt der Versuch unternommen, die in der theoretischen Philosophie vorgelegten Resultate gewinnbringend auf die vergleichsweise weniger elaborierten Kohärenztheorien in der Ethik zu übertragen. Dieses Ziel wurde in zwei Teilprojekten verfolgt. Im ersten Teilprojekt sollten die Ergebnisse aus der theoretischen Philosophie auf den Anwendungsbereich Ethik übertragen werden, um dem dort verwendeten Kohärenzbegriff mehr Kontur zu verleihen. Im zweiten Teilprojekt sollte untersucht werden, welches Kohärenzkonzept den verschiedenen Varianten des Überlegungsgleichgewichts zugeordnet werden kann und welche Gewinne mit der Übertragung präziserer Kohärenzkonzepte für die Anwendung des Überlegungsgleichgewichts erzielt werden können. Das zentrale Ergebnis des ersten Teilprojekts ist, dass es den Kohärenzbegriff in der Ethik nicht gibt. Vielmehr ist gezeigt worden, dass sich hinter dem allgemeinen Verweis auf Kohärenz mindestens vier Kohärenzbegriffe verbergen, die nicht auf ein einziges Kernkonzept reduziert werden können. So wird der Kohärenzbegriff in der theoretischen Philosophie primär im Rahmen der Kohärenztheorie der Wahrheit und der Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung verwendet. In der Ethik dagegen sind diese Kohärenztheorien nur unter kognitivistischen Voraussetzungen anwendbar, weil nur in solchen Metaethiken überhaupt davon ausgegangen werden kann, dass moralische Überzeugungen wahrheitswertfähig und epistemisch rechtfertigbar sind. Außerdem gibt es in der praktischen Philosophie zusätzlich andere Verwendungsweisen des Kohärenzbegriffs (z. B. in der Theorie moralischer Motivation und in der rationalen Entscheidungstheorie), die in der theoretischen Philosophie kein Analogen haben. Im Rahmen des ersten Teilprojekts wurden vier wichtige Verwendungsweisen des Kohärenzbegriffs in der Ethik voneinander abgegrenzt und in Bezug auf ihre Explikation und ihre metaethischen Voraussetzungen analysiert. Dabei stellte sich heraus, dass sich in der Ethik verschiedene Typen von Kohärenztheorien unterscheiden lassen, die untereinander teilweise inkompatibel sind. Das zentrale Ergebnis des zweiten Teilprojekts ist, dass die mit dem Überlegungsgleichgewicht verbundenen Rechtfertigungsansprüche durch eine Analyse des zugrundeliegenden Kohärenzbegriffs zumindest teilweise expliziert werden können. Allerdings erwies sich die ursprünglich von John Rawls vorgeschlagene Konzeption des Überlegungsgleichgewichts als zu unterbestimmt, um das ihr zugrundeliegende Kohärenzkonzept eindeutig zu identifizieren. Um ein präzisiertes Modell eines Überlegungsgleichgewichts zu entwickeln, wurde deshalb auf eine in formaler Weise ausgearbeitete Explikation des Kohärenzbegriffs zurückgegriffen, die in der theoretischen Philosophie vorgelegt worden ist. Hierbei handelte es sich um die general theory of coherence von Paul Thagard. Die Anwendbarkeit von Thagards Theorie auf die Ethik wurde anhand konkreter Fallbeispiele erprobt. Dabei konnte ein Kohärenzmodell des Überlegungsgleichgewichts entwickelt werden, das zumindest für sehr einfache Anwendungen präzise Aussagen zum Kohärenzgrad unterschiedlicher Überzeugungssysteme erlaubt. Rechtfertigungsansprüche, die auf dem unterschiedlichen Kohärenzgrad komplexerer Systeme gründen, halten einer entsprechenden Präzisierung aber nicht stand und bleiben auf intuitive Bewertung angewiesen. Insgesamt erlauben die in den Teilprojekten erzielten Erkenntnisse drei skeptische Schlussfolgerungen zu den Rechtfertigungsansprüchen, die häufig mit dem moralischen Kohärentismus verbunden werden. Erstens existiert in der Ethik zurzeit keine einheitliche Grundposition des moralischen Kohärentismus. Zweitens sind die metaethischen Vorannahmen der verschiedenen kohärentistischen Theorien so anspruchsvoll, dass wenig Aussicht darauf besteht, den Kohärentismus als allgemein akzeptierte Theorie der Rechtfertigung für die Ethik zu etablieren. Und drittens kann - ungeachtet der Anstrengungen von Paul Thagard und anderen - der Kohärenzgrad komplexer normativer Systeme bestenfalls abgeschätzt und keineswegs präzise bestimmt werden. Daraus folgt allerdings nicht, dass der Kohärenzbegriff für die Ethik insgesamt irrelevant wäre. Die verschiedenen Spezialisierungen des Kohärenzbegriffs, die sich ergeben, wenn man den schwachen Bedeutungskern mit zusätzlichen Annahmen auflädt, setzen in ihrer Anwendung auf die Ethik lediglich die Geltung von unterschiedlichen, teilweise recht anspruchsvollen metaethischen Annahmen voraus. Wenn man diese Annahmen akzeptiert, kann eine entsprechende Kohärenztheorie durchaus zur Lösung spezifischer Probleme beitragen. Im Projekt wurden diese unterschiedlich spezifizierten Kohärenzbegriffe voneinander abgegrenzt, die notwendigen metaethischen Voraannahmen geklärt und kritisch diskutiert, inwieweit sie die intendierten Leistungen für die ethische Theoriebildung erbringen können.
Publications
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Botzenhardt, Tilman (2007). Das Überlegungsgleichgewicht - eine kohärenztheoretische Rekonstruktion. Unveröffentlichte Dissertationsschrift.
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Gähde, Ulrich & Hartmann, Stephan (Hg.) (2005). Coherence, truth, and testimony. Erkenntnis (Special Issue) 63 (3), 293^23. Reprint Berlin: Springer 2006.
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Gähde, Ulrich (2006). Theorien-Netze und die logische Struktur ethischer Theorien. In: Ernst, Gerhard & Niebergall, Karl-Georg (Hg.). Philosophie der Wissenschaß - Wissenschaft der Philosophie (S. 87-109). Paderborn: mentis.
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Hoffmann, Martin (2005). Sind Gruppenzugehörigkeiten moralisch relevant? Zu einigen Konsequenzen von Simpsons Paradox bei der Begründung ethischer Normen. Philosophisches Jahrbuch 112 (2), 335-358.